Jetzt hat die Basis das Wort Die Revier-SPD zwischen Zweifel und Zustimmung

Oberhausen · Nach der rot-schwarzen Einigung auf den Koalitionsvertrags weicht bei vielen Genossen die Skepsis. Außer bei jenen, die mit ihrem Nein beim Mitgliederentscheid auch Angela Merkel abwählen wollen. Die Revier-SPD ist bei der großen Koalition hin- und hergerissen.

Die 15 wichtigsten Punkte des Koalitionsvertrages
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Deutschland wartet auf ihre Meinung: Im Hinterzimmer der polnischen Gaststätte "Gdanska" mitten im Ruhrgebiet tagen rund 25 Genossen, deren Stimme als eine von 475.000 SPD-Mitgliedern über die künftige Regierung mitentscheiden wird. Während in Berlin wochenlang um schwarz-rote Koalitionskompromisse gerungen wurde, ist der Vertrag bei der Mitgliederversammlung des SPD-Ortsverein Oberhausen Mitte erstmal nicht das Thema Nummer 1.

Die druckfrischen 185 Seiten wollen schließlich in Ruhe gelesen und bewertet werden, bevor jemand sein klares Votum abgeben möchte. Und überhaupt, erstmal drängt das lokalpolitische Geschäft: "Wir haben ein straffes Programm heute: Wir müssen Kandidaten für die Kommunalwahl bestimmen", sagt Ortsvereinsvorsitzender Ercan Telli.

Und so bestimmen Nominierungen und Ortsvereins-Interna die Sitzung in dem Kulturcafé mit Piroggen und Piwo auf der Speisekarte und moderner Kunst an den Wänden. Fragt man die Genossen dagegen am Rande oder später beim Bier, wie sie das rot-schwarze Verhandlungsergebnis vom Mittwoch bewerten, geben sie gerne Auskunft.

"Große Koalition ist der Todesstoß für die SPD"

Da gibt es einerseits die selbst ernannten Realisten, die angesichts der Bundestagswahlergebnisse in dem quergelesenen Koalitionsvertrag mit vielen SPD-Ideen ein gutes Geschäft sehen. Und es gibt jene, die aus dem Votum eine Abstimmung über die Große Koalition als solche machen — für sie geht es ums Prinzip, nicht um Details.

"Große Koalition ist der Todesstoß für die SPD, ganz klar", sagt etwa Raimund Runte. Schon einmal sei seine Partei in einer Koalition mit Angela Merkel vor die Hunde gegangen. So ist er stolz, dass er sein "Nein" dazu geben kann, was die Oberen unter sich ausgemacht hätten. Vielleicht wird sie ja dann diskutiert werden müssen, seine Wunschalternative Rot-Rot-Grün.

Inge Dratz ist ebenfalls enttäuscht, dass ein Linksbündnis nicht zur Diskussion stand. "SPD und CDU passen nicht zusammen", sagt die 67-Jährige, die seit 46 Jahren in der SPD aktiv ist. Wo sind die Steuererhöhungen für Reiche? Wem hilft eine CDU-Mütterrente? Den Vertrag will sie dennoch lesen, und dann entscheiden — mit der Ehrlichkeit, die sie in der Politik so sehr vermisse: "Es geht doch da oben nur um Macht und Positionen."

"Man muss auch gewisse Realitäten anerkennen"

Andere sind mit dem das Verhandlungsergebnis ihrer Parteispitze zufrieden, signalisieren schon jetzt Zustimmung. "Aufgrund des Wahlergebnisses muss man auch gewisse Realitäten anerkennen", meint Alfred Röder. Bei rund 25 Prozent der Wählerstimmen für die SPD und 41 Prozent für die Union laufe es auf Kompromisse hinaus und nicht auf den großen Politikwechsel, sagt der Gewerkschafter und Ex-Betriebsratsvorsitzende. Sigmar Gabriel und Co. hätten gut verhandelt für die Mitglieder und das Land. Frühere Vertragsentwürfe hätte er noch abgelehnt, der Mindestlohn und die Eindämmung von Leiharbeit sowie Rentenverbesserungen ließen ihn jetzt zur Zustimmung tendieren.

Werner Perz war auch immer gegen die große Koalition. An der Rolle des Angela-Merkel-Steigbügelhalters sollten sich doch lieber die Grünen die Zähne ausbeißen. Doch auch seine Skepsis gerät ins Wanken: "Ja, die SPD hat die Wahl verloren. Aber jetzt möchte ich als Verlierer versuchen auf die Gewinnerstraße zu kommen", sagt Perz und grinst. Was er bisher über die Inhalte des Vertrages weiß, lasse ihn hoffen, seine Partei könne auch als Juniorpartner zum Gewinner werden.

Dann wird es Zeit nach Hause zu gehen. Dort warten über 180 Seiten Koalitionsvertrag auf das Urteil von 475.000 Realisten, Gegnern aus Prinzip und Unentschlossenen in der SPD. "Vor Gericht, auf hoher See und bei Mitgliederbefragungen kann alles passieren", sagt Ortsvereins-Vorsitzender Telli noch. Bis feststeht, ob die SPD-Basis ihrer Spitze folgt, wird Deutschland bis Mitte Dezember warten müssen.

(lnw)
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