Der Reichtumsreport

In angelsächsischen und nordischen Ländern nimmt die Ungleichheit seit über 20 Jahren zu, ebenso wie in den Schwellenländern. In Deutschland und Frankreich dagegen bleibt die Balance gewahrt.

Düsseldorf Wer bekommt wie viel? Diese Frage bewegt die Menschen und besonders Wähler wie kaum etwas sonst. Interessanterweise haben sich die Ökonomen mit dem Thema nur am Rande auseinandergesetzt. Ihnen ging es mehr um Wachstum, Produktivität und Effizienz als um Verteilungsgerechtigkeit. Doch seit eine entfesselte Finanzindustrie und ein ungezügelter Immobilienboom beinahe zur Kernschmelze des globalen Wirtschaftssystems führten, nimmt die Beschäftigung mit Fragen der Einkommens- und Vermögensverteilung wieder zu.

Auch die Politik hat das Thema wieder entdeckt. So warnen Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble unentwegt vor raffgierigen Bankern und Top-Managern. Selbst Liberale wie FDP-Generalsekretär Christian Lindner oder der neue Parteivorsitzende Philipp Rösler empfehlen einen "mitfühlenden Liberalismus", der nicht die Augen vor dem Schicksal der Geringverdiener verschließen darf.

Hat nun die Ungleichheit in der westlichen Welt und in den aufstrebenden Schwellenländern wirklich so zugenommen, wie das breite Publikum es vermutet? In einem Aufsehen erregenden Aufsatz in der renommierten amerikanischen Fachzeitschrift "Journal of Economic Literature" haben die beiden Starökonomen Anthony Atkinson (Großbritannien) und Emmanuel Saez (Frankreich) zusammen mit dem französischen Statistiker Thomas Piketty den Anteil der obersten Einkommensschicht, das heißt des reichsten Prozents aller Einkommensbezieher, in den vergangenen 100 Jahren beleuchtet. Sie nutzten dafür Steuertabellen aus 22 verschiedenen Ländern, von den USA, Großbritannien, Deutschland und Frankreich bis zu solchen von China und Indien.

Die Forscher kamen zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen: In den angelsächsischen Ländern wie Großbritannien und den Vereinigten Staaten verdiente das Prozent an der Spitze der Einkommens-pyramide vor 100 Jahren rund ein Fünftel aller Löhne und Gewinne. Die Katastrophen zweier Weltkriege und einer Weltwirtschaftskrise erwiesen sich dann als große Gleichmacher und halbierten den Anteil der Reichsten bis 1950. In Deutschland und Frankreich war es ähnlich. Auch dort strich das reichste Prozents aller Einkommensbezieher rund 20 Prozent der Wirtschaftsleistung ein, nach dem Zweiten Weltkrieg waren es in Westdeutschland noch elf, in Frankreich gar nur neun Prozent.

Zuvor wurden ausgerechnet in der Nazi-Zeit in Deutschland die Reichen wieder reicher. Sie gewannen in nur fünf Jahren Aufschwung fünf Prozentpunkte hinzu. Darin mag sich die Enteignung jüdischen Vermögens und die Raffgier einer neuen NSDAP-Elite widerspiegeln. Die Nationalsozialisten verloren wegen dieser Ungleichheit Anfang der 40er Jahre so viel an Popularität, dass sie Steuern und Sozialleistungen im Krieg erhöhen mussten, um den Unmut zu dämpfen.

Die goldenen Jahre des Wiederaufbaus und die folgende Dekade der Energiekrisen änderten an der Einkommensverteilung im Westen nur wenig. In Deutschland nahm bis in die 60er Jahre die Ungleichheit etwas zu, die sozial-liberalen Reformen in den 70er Jahren verminderten den Anteil der Top-Verdiener. Ähnlich war es in anderen westlichen Ländern.

Erst danach änderte sich das Bild grundlegend. Mit den gewaltigen Einkommensteuersenkungen, der Beschneidung der Gewerkschaftsmacht, der Liberalisierung des Arbeitsmarkts sowie der Abschaffung von wachstumshemmenden Vorschriften wuchs der Anteil der großen Einkommen im Großbritannien Margaret Thatchers und der USA Ronald Reagans dramatisch auf. Der Prozess hielt sogar in den 90er Jahren unter Bill Clinton (USA) und Tony Blair (Großbritannien) an. In unseren Tagen bekommen in den beiden englischsprachigen Ländern die obersten ein Prozent Top-Verdiener anteilig so viel wie zu Zeiten des Hoch-Kapitalismus vor 100 Jahren. Mit anderen Worten: Die Reichen sind wieder erheblich reicher geworden.

Anders in Deutschland und Frankreich: Zwar hat auch dort der Anteil des obersten Prozents aller Einkommensbezieher zugenommen, Verglichen mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg liegt sein Teil an der gesamten Wertschöpfung aber auf dem gleichen Niveau und weit unter den Werten der Briten und Amerikaner.

Atkinson und Saez vermuten, dass neben der ökonomischen Liberalisierung in diesen Ländern seit Mitte der 80er Jahre vor allem die Senkung des Spitzensteuersatzes und die gestiegene Entlohnung von wirtschaftlichen Führungskräften für die neue Ungleichheit verantwortlich ist. In Deutschland und Frankreich blieben die Steuern höher und die Lohnpyramide flacher als in den angelsächsischen Ländern.

Die Zahlen für Deutschland reichen allerdings nur bis zum Jahr 1998. Nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) hat sich das reichste Prozent seither nur wenig von den übrigen Gruppen entfernt. Laut Statistischem Bundesamt liegt die Grenze zur Oberschicht schon bei jährlichen Einkünften von 126 000 Euro. Und die stellen auch 2008 rund zehn Prozent aller Einkommen – weniger als das Forscherteam Atkinson, Piketty und Saez für 1998 ermittelte.

Trotzdem hat sich auch in Deutschland die Verteilung der Einkommen seit 2000 geändert. Die hohe Arbeitslosigkeit bis 2005 ließ den Abstand zwischen Geringverdienern und mittleren Einkommen wachsen. So stieg der Wert des Gini-Koeffizienten, mit dem die Ungleichheit in einer Gesellschaft gemessen wird, in dieser Zeit spürbar an. Doch auch hier gibt es Zeichen der Entspannung. Seit die Zahl der Arbeitslosen so stark zurückgeht, schwindet auch die Ungleichheit – wenn auch nur leicht.

(RP)
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