Düsseldorf/Solingen "Das Leben ist süß"

Düsseldorf/Solingen · Mevlüde Genç spricht vom Frohsinn - trotz ihres Verlustes beim Brandanschlag in Solingen 1993. Kanzlerin Merkel, Ministerpräsident Laschet und der türkische Außenminister Çavusoglu zollen ihr dafür Respekt.

Mevlüde Genç betritt zusammen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel den Saal. Genç hat sich bei Merkel eingehakt. Die geladenen Gäste in der Düsseldorfer Staatskanzlei stehen auf, als die beiden zu sehen sind. Von Anfang an ist der Tenor klar, der an diesem Dienstagmittag beim Gedenken an den Solinger Brandanschlag vor 25 Jahren vermittelt werden soll: Wir halten zusammen.

Mevlüde Genç ergreift zum Ende der Gedenkveranstaltung das Wort. Sie sei eine Mutter, die ihre Kinder verloren habe. "Je älter man wird, desto mehr Platz nimmt der Schmerz in meinem Herzen ein", sagt Genç. Doch sie hat an diesem Tag eine Botschaft für die Menschen: In den Nächten nach dem Anschlag habe sie bitterlich geweint. Aber am Tag sei sie ihren Kindern mit einem Lächeln begegnet. Sie habe nicht gewollt, dass der Hass bei ihren Kindern überwiegt, sondern der Blick nach vorn - in eine Zukunft ohne Schmerz und Verlust.

"Das Leben ist süß", sagt Genç. "Ich möchte Ihnen allen an diesem Tag mein Vermächtnis mit auf den Weg geben: Wir müssen als Brüder und Schwestern zusammenstehen." Ihr Herz sei nicht von Rache erfüllt. Niemand dürfe in dieser Welt den Schmerz erleiden, den sie hätte erleiden müssen. Langer Applaus.

Neben Genç und Merkel sind an diesem Tag auch NRW-Ministerpräsident Armin Laschet und der türkische Außenminister Mevlüt Çavusoglu dabei. Laschet sagt, die Erinnerung an den Brandanschlag sei wichtig, weil die Lehren daraus bis heute nichts an Aktualität verloren hätten. Der 29. Mai 1993 müsse einen festen Platz in den Geschichtsbüchern haben. Dann zitiert der Ministerpräsident aus dem jüdischen Talmud: "Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden Worte. Achte auf Deine Worte, denn sie werden Handlungen."

An gewöhnlichen Tagen erinnert in der Unteren Wernerstraße wenig an das, was vor 25 Jahren geschah. Fünf Kastanien wurden gepflanzt, wo einst das Haus der Familie Genç stand. Fünf Kastanien für die fünf Menschen, die in der Nacht vom 28. auf den 29. Mai 1993 ihr Leben verloren. Und eine kleine Gedenktafel: Hatice Genç (18) Gülüstan Öztürk (12), Hülya Genç (9) Saime Genç (4) und Gürsün Ince (27), die sich vor den Flammen durch einen Sprung aus dem Fenster zu retten versuchte. Sie starb, aber das Kind, das sie in den Armen hielt, überlebte.

Wie in Düsseldorf versammeln sich in Solingen an diesem Nachmittag Politiker, um an jene Brandnacht zu erinnern, die als eines der schlimmsten rassistischen Verbrechen der Nachkriegszeit in die deutsche Geschichte einging.

Der stellvertretende NRW-Ministerpräsident Joachim Stamp fragt, warum es nicht gelang, "das Versprechen zu erfüllen, auf das jeder Bürger, ob einheimisch oder zugewandert, einen Anspruch hat: Nämlich frei und in Sicherheit zu leben." Wenig später bricht ein Gewitter los. So heftig, dass die Veranstaltung abgebrochen werden muss. Der türkische Außenminister Çavusoglu kommt nicht mehr dazu, seine Rede zu halten. Er wollte laut Manuskript daran erinnern, wie aufgebracht das türkische Volk kurz nach dem Brandanschlag war. Und dass es ausgerechnet die Familie Genç war, die es mit ihrem Wunsch nach Versöhnung besänftigte.

Auch Calogero Vassallo, der heute in Solingen als Taxifahrer arbeitet, kann sich an die Stimmung nach dem Anschlag erinnern. "Es herrschte Krieg auf der Straße", sagt er. Aufgebrachte Gruppierungen hätten aus Protest auf Straßenkreuzungen Lagerfeuer gemacht, die Polizei habe alle Hände voll zu tun gehabt, die Lage zu deeskalieren.

Wahlkampf, wie zuvor befürchtet, macht Çavusoglu an diesem Nachmittag auch in Solingen laut Redetext nicht. Mit Respekt vor der Familie Genç dürfe man diesen Jahrestag nicht mit jeglichen politischen Debatten überschatten, sagt er demnach. Aber er weist daraufhin, dass das Verfahren gegen den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) in der Türkei und die rechtspopulistischen Strömungen in Deutschland genau verfolgt würden. Es sei nicht richtig, wenn gegen Migranten ausgrenzende Ausdrücke gebraucht würden.

Sein deutscher Amtskollege gibt ihm recht. Doch auch Heiko Maas kommt nicht mehr dazu, seine Rede wie geplant zu halten. 312 Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte habe es allein im vergangenen Jahr gegeben, fast einer pro Tag, listet Maas laut Manuskript auf. Meinungsverschiedenheiten zwischen der Türkei und Deutschland dürften keine Absage an das gemeinsame Gedenken zur Folge haben.

Solingens Oberbürgermeister Tim Kurzbach spricht die schonungslosesten Worte an diesem Nachmittag. Die Stimmung in Solingen kurz vor dem Brandanschlag beschreibt er rückblickend so: "Ja, es stimmt, eine rechte Szene existierte." Sie habe aber überschaubar gewirkt - und die Personen, die man gekannt habe, hätten als ungefährlich gegolten, als "skurril". Welch ein Trugschluss. Die Täter, vier deutsche Neonazis, verkehrten seit Langem in der Skinhead-Szene. Einer von ihnen war ein Nachbar der Familie Genç.

(RP)
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