Analyse Kanada geht an die Grenze

Die Regierung Trudeau will in den nächsten drei Jahren mehr als eine Million Zuwanderer ins Land holen. Das ist selbst für das weltweit bewunderte kanadische Einwanderungsmodell ein Stresstest – mit ungewissem Ausgang.

Kanadas Premierminister Justin Trudeau will Migration fördern.

Kanadas Premierminister Justin Trudeau will Migration fördern.

Foto: AFP/PETER PARKS

Beim Thema Einwanderung gehen die USA und Kanada bekanntlich krass unterschiedliche Wege: Während US-Präsident Donald Trump zuletzt im Vorfeld der Kongresswahlen unverhohlene Ressentiments gegen Zuwanderer und Flüchtlinge schürte und so auf Stimmenfang ging, will der nördliche Nachbar Kanada ein offenes Land bleiben und die Zuwanderung sogar weiter erhöhen.

Der Kontrast könnte nicht schärfer sein: Trump will Zuwanderer fernhalten und Flüchtlinge notfalls mit dem Einsatz von Soldaten abwehren. Kanada dagegen will laut Migrationsminister Ahmed Hussen in den nächsten drei Jahren so viele Zuwanderer ins Land lassen wie seit einem Jahrhundert nicht mehr. Dies jedenfalls legen die neuen Quoten nahe, die Hussen unlängst der Öffentlichkeit präsentierte. Kanada brauche mehr Einwanderer, um den Bedarf an Fachkräften zu decken und das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, betonte Hussen.

Dazu will die Regierung des liberalen Premierministers Justin Trudeau nächstes Jahr rund 330.000 Zuwanderer neu ins Land holen, das sind 20.000 mehr als dieses Jahr und 80.000 mehr als in den Jahren davor unter dem konservativen Premierminister Stephen Harper. In den darauf folgenden zwei Jahren soll die Quote dann weiter steigen, auf zunächst 341.000 Menschen, dann auf 350.000 im Jahr 2021.

Gegenüber heute entspricht das einem Zuwachs von knapp 13 Prozent und stellt zugleich die höchste Zahl an Neuankömmlingen dar, die Kanada seit den großen Einwanderungswellen vor dem Ersten Weltkrieg aufgenommen hat. Umgerechnet auf die Einwohnerzahl Kanadas werden allein die Neubürger damit jedes Jahr für ein Bevölkerungswachstum von rund einem Prozent sorgen.

Zum Vergleich: Das ist statistisch rund dreimal so viel wie derzeit in den Vereinigten Staaten. Trumps schrille Warnungen vor einer angeblich drohenden Zuwanderungs- und Flüchtlingswelle in die USA wirkt vor diesem Hintergrund geradezu grotesk.

Freilich, Kanada setzt seit jeher ganz gezielt auf Fachkräfte. In manchen Regionen Kanadas ist der Hunger nach Arbeitnehmern gewaltig. Kanada wolle wettbewerbsfähig und innovativ bleiben und zu einem attraktiven Ziel für Talente aus aller Welt werden, betonte der Migrationsminister. Auch gehe es darum, die Willkommenskultur Kanadas zu erhalten, sagte Hussen, der als junger Mann selbst als Flüchtling aus Somalia nach Kanada gekommen war, bevor er in der Politik Karriere machte.

Als traditionelles Einwanderungsland will Kanada dabei um junge Zuwanderer mit guter Ausbildung und Qualifikation werben. Gut 70 Prozent aller Neuankömmlinge sollen anhand beruflicher Kriterien und der Erfordernisse des Arbeitsmarktes ausgewählt werden. Bis zum Jahr 2021 sind das etwa 200.000 Fachkräfte im Jahr, die von der Bundesregierung in Ottawa, aber auch von den einzelnen Provinzen anhand lokaler Bedürfnisse ausgewählt werden.

Kanada benutzt dafür eine Art Punktesystem, das weltweit als vorbildlich gilt. Beim sogenannten Express-Entry-Verfahren werden Bewerber anhand von Kriterien wie Berufsausbildung, Alter, Sprachkenntnissen oder Integrationsfähigkeit bewertet und in einen Online-Bewerberpool aufgenommen, falls sie eine Mindestpunktezahl erreichen. Aus diesem Pool können sich die Unternehmen dann die passenden Kandidaten aussuchen und nach Kanada holen.

Gut ein Viertel aller neuen Zuwanderer soll laut dem neuen Plan im Rahmen der Familienzusammenführung nach Kanada kommen. Im kommenden Jahr sind dies etwa 88.000 Menschen. Diese Quote soll über die nächsten Jahre in etwa konstant bleiben. Der Rest der Gesamtzahl entfällt auf Flüchtlinge. So will Kanada nächstes Jahr 46.500 Flüchtlinge aufnehmen, im Jahr 2020 sollen es dann rund 52.000 sein.

Allerdings muss man wissen, dass die Regierung Trudeau mit diesem Plan bereits etwas zurücksteckt. Vor zwei Jahren hatte eine von der Regierung eingesetzte Expertenkommission noch die Aufnahme von bis zu 450.000 Menschen im Jahr empfohlen. Nun heißt es jedoch, dies sei zu hoch gegriffen und man dürfe die Integrationsfähigkeit des Landes nicht überfordern.

Tatsächlich steht die Regierung bei dem Thema zunehmend unter Druck, und selbst Hussens eingedampfter Plan ist politisch nicht ohne Risiko. Die Opposition in Ottawa wirft der Regierung vor, zu viele Menschen ins Land zu lassen und zu lasch mit jenen Flüchtlingen umzugehen, die illegal aus den USA nach Kanada kommen. Allein zwischen Januar 2017 und März 2018 hatten rund 28.000 Menschen die Grenze irregulär überquert, viele davon übrigens aus Furcht vor Trumps Politik.

Im kommenden Jahr wird in Kanada ein neues Parlament gewählt, und die konservative Opposition will die Zuwanderung ähnlich wie Trump zu einem Hauptthema im Wahlkampf machen. Noch ist unklar, ob die Strategie in Kanada verfängt, denn die Kanadier gelten traditionell als liberal und aufgeschlossen gegenüber Zuwanderern. Kaum verwunderlich, war doch jeder Kanadier selbst einmal Einwanderer oder stammt von einem ab.

Allerdings gibt es erste Warnsignale. Bei wichtigen Regionalwahlen in den zwei bevölkerungsreichsten Provinzen Ontario und Quebec mussten Trudeaus politische Verbündete zuletzt Niederlagen hinnehmen. In beiden Fällen regieren jetzt rechtskonservative Parteien, die einer lockeren Zuwanderungspraxis kritisch gegenüberstehen. Viel wird davon abhängen, ob die Kanadier weiter Vertrauen in ihr staatlich gelenktes Punktesystem haben. Falls sie das Gefühl bekommen, dass das System umgangen oder ausgenutzt wird, könnte es schnell vorbei sein mit der legendären kanadischen Offenheit.

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