Analyse Der nützliche Einwanderer

Düsseldorf · Während der US-Präsident die Zahl der Migranten reduzieren will, erhöht Kanada die Quoten. Beide Länder eint jedoch, dass sie die Einwanderung konsequent steuern und auf schnelle Integration setzen. Das sollten wir auch.

Donald Trump macht Druck. Er will um jeden Preis die Mauer an der Grenze zu Mexiko bauen, die er seinen Wählern fest versprochen hat. Ein Bollwerk gegen die illegale Einwanderung aus dem Süden, mehr als 3000 Kilometer lang und 15 Milliarden Dollar teuer. Weil der US-Kongress bisher erst einen Bruchteil des Geldes genehmigt hat, droht Trump damit, im Herbst seine Unterschrift unter das Haushaltsgesetz zu verweigern und so den Staatsapparat lahmzulegen. Die meisten Politiker in Washington, selbst aus Trumps eigenem Lager, halten den Mauerbau zwar für herausgeschmissenes Geld. Aber am Ende wird der Präsident seine Grenzbefestigung wohl bekommen. Denn die Migrationsfrage ist selbst im traditionellen Einwanderungsland USA politisch hochbrisant geworden.

Es geht dabei längst nicht mehr nur um illegale Einwanderer. Trump beabsichtigt, den Zuzug insgesamt zu begrenzen. So will er die berühmte Green Card-Lotterie abschaffen, bei der Aufenthaltsgenehmigungen an Bewerber aus bestimmten Ländern verlost werden. Außerdem will er die Zahl der Familienzusammenführungen stark reduzieren. Das könnte nach Schätzungen die Zahl der legalen Einwanderer um 44 Prozent verringern, pro Jahr um fast eine halbe Million Menschen. Es wäre der drastischste Einschnitt seit den 1920er Jahren. Und es wäre nüchtern gesehen wohl ein höchst unvernünftiger Schritt. Alle Studien, zuletzt der 2017 erschienene Bericht der Nationalen Wissenschaftsakademie, zeigen, dass Einwanderung langfristig kräftig zum wirtschaftlichen Wachstum der USA beiträgt.

Beim nördlichen Nachbarn Kanada muss man das niemandem umständlich erklären. Für die Kanadier ist Einwanderung eine Frage des Überlebens, weit über 80 Prozent halten sie für eine gute Sache. Die Einwanderungsquote wurde in den vergangenen Jahren mehrfach erhöht. Ohne diesen ständigen Zufluss an Menschen würde die kanadische Bevölkerung ab 2030 kontinuierlich schrumpfen. In dem gewaltigen Territorium, das heute schon sehr dünn besiedelt ist, ließe sich die Infrastruktur in weiten Teilen nicht mehr aufrechterhalten - Kanada drohte die Auszehrung. Denn das Land schafft Jobs, für die es ohne Migranten keine Arbeitskräfte gäbe. Seit etwa sechs Jahren sind rechnerisch alle neuen Stellen mit Einwanderern besetzt worden.

Kanadas Einwanderungspolitik entspringt also schierer Notwendigkeit. mit Gutmenschentum hat sie nichts zu tun. Seit 1962 setzt das Land dabei auf eine scharfe Auswahl. Damals wurde per Erlass die Qualifikation eines Bewerbers zum entscheidenden Merkmal, nicht mehr seine Herkunft. Seit 1967 gibt es das berühmte Punktesystem - wer mindestens 67 von 100 möglichen Punkten erreicht, hat einen Fuß in der Tür. Gesucht wird der gut ausgebildete Mittelschichtbürger mit der Fähigkeit, sich schnell zu integrieren. Die entscheidende Frage lautet: Passt er zu uns, nützt er uns?

Freilich funktionierte das System längst nicht immer so gut, wie die Bewunderer des kanadischen Modells behaupten. Deswegen wurde es immer wieder angepasst. Über das reine Punktesystem kommt heute nur noch etwa die Hälfte der Einwanderer ins Land. Daneben haben alle kanadischen Provinzen eigene Programme entwickelt, und seit einiger Zeit gibt es auch einen Express-Zugang: Wer ein konkretes Job-Angebot eines kanadischen Arbeitnehmers vorweisen kann, darf an anderen Bewerbern vorbeiziehen. Dann dauert die Einwanderungsprozedur nur noch ein halbes Jahr, wo sonst gerne mal fünf Jahre und mehr ins Land gehen.

Kanada nimmt auch ein gewisses Kontingent an Menschen aus humanitären Gründen auf, aber zwei Drittel der Einwanderer sind - logischerweise - Wirtschaftsimmigranten. Deren Streben nach einer besseren Zukunft deckt sich glücklich mit dem Bedarf Kanadas an neuen Bürgern. Und genau das wollen sie auch fast alle werden: 85 Prozent der Einwanderer nehmen die kanadische Staatsbürgerschaft an, die sie schon nach drei Jahren beantragen können. Ohne übrigens ihre bisherige Nationalität aufgeben zu müssen. Das ist für Kanadier wie auch für US-Amerikaner kein Problem, stammen die meisten von ihnen doch auch von Siedlern mit vielfältiger Herkunft ab. Die deutsche Angst vor gespaltenen Loyalitäten würde kaum einer verstehen.

Auch in klassischen Einwanderungsländern wie den USA oder Kanada wird zwar gelegentlich über das rechte Maß der Migration gestritten - grundsätzlich infrage gestellt wird sie aber nur von ganz wenigen. Das ist wohl der entscheidende Unterschied zu den meisten europäischen Ländern, die dieses Zutrauen, dass Zuwanderung auf lange Sicht Vorteile bringt, nicht entwickelt haben. Stattdessen steht Migration unter einer Art Generalverdacht, wobei gerade im wirtschaftlich boomenden Deutschland die Angst vor zusätzlicher Konkurrenz um Arbeitsplätze derzeit weniger stark ausgeprägt scheint als eine diffuse Angst vor ethnischer und kultureller Überfremdung.

Dass Einwanderung ein Land stark verändern kann, ist unbestreitbar. In einigen US-Bundesstaaten wird heute mehr Spanisch als Englisch gesprochen, und in Toronto gibt es Viertel, wo Asiaten längst die Mehrheit stellen. Aber vielleicht haben wir bald gar keine andere Wahl mehr, als uns diesem Wandel zu stellen. Überall in Europa, ganz besonders stark in Deutschland, wird der demografische Wandel dazu führen, dass Arbeitskräfte fehlen - trotz Digitalisierung. Wenn wir unseren Wohlstand bewahren wollen, werden auch wir künftig die Einwanderung organisieren müssen, sie steuern, statt sie nur zu erdulden. Dafür brauchen wir Kriterien, Kapazitätsgrenzen, kurz: eine Strategie. Nicht alles müssen wir neu erfinden, es gibt ja Vorbilder. Wir müssen nur allmählich mal loslegen.

(RP)
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