Ägypten fürchtet die Rache der Muslimbrüder Auf den Jubel folgt die Angst

Hunderttausende Ägypter feiern Mursis Sturz, ein Übergangspräsident ist schon vereidigt. Doch in den Jubel mischt sich Unbehagen. Das Land steht vor noch schwierigeren Fragen als zuletzt. War der Machtwechsel Verrat an der Demokratie? Viele beschleicht die Angst vor der Rache der Muslimbrüder. Der neuen Führung muss es gelingen, ein tief gespaltenes Land zu versöhnen. Sonst droht ein Bürgerkrieg.

Nach dem Sturz des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi durch das Militär steht die Zukunft des Landes auf Messers Schneide. Die Generäle setzen auf eine Expertenregierung. Die neue Führung um den am Donnerstag vereidigten Übergangspräsidenten Adli Masur (67) steht vor monströsen Herausforderungen: Sie muss Ägypten eine neue Grundlage für das Zusammenleben verschaffen. Wirtschaftlich. Politisch. Kulturell.

Am schwersten werden sich die neuen Hüter des ägyptischen Staates damit tun, die geschassten Muslimbrüder zu integrieren. Dass sie das tun müssen, steht außer Frage. Denn sie sind fest in der ägyptischen Gesellschaft verankert. Nach Einschätzungen von Experten stehen 30 bis 40 Prozent der Ägypter hinter ihnen. Bei den Parlamentswahlen gewannen sie noch überwältigende zwei Drittel der Stimmen, bei den Präsidentschaftswahlen gewann ihr Kandidat Mohammed Mursi.

Beim Scheitern droht Bürgerkrieg

Eine derart große Gruppe darf ein Land nicht ignorieren. Zumal ein Scheitern unkalkulierbare Risiken heraufbeschwören würde. "Wenn es nicht gelingt, die Muslimbrüder an der neuen Verteilung der Macht in irgendeiner Weise zu beteiligen, dann stehen Ägypten sehr schwere Zeiten bevor", prognostizierte Nahost-Experte Michael Lüders am Mittwochabend im ZDF. Und erinnert an einen historisch ähnlichen Fall, den man als Mahnung der Geschichte verstehen muss: Am 11. Januar 1992 putschte die Armee nach einem Wahlsieg der Islamisten. Es folgte ein langjähriger Bürgerkrieg mit über 200.000 Toten.

Die Zukunft der Muslimbrüder wird entscheidend sein für Wohl und Wege Ägyptens. Doch die tief gläubigen Männer, die ein Jahr lang mit Mursi das Land regierten, zeigen sich bislang unversöhnlich. Sie sprechen von einer Vergeltungsaktion des alten Regimes, fühlen sich hintergangen, betrogen, kriminalisiert. Als die Militärführung zum Krisentreffen vor der Absetzung Mursis rief, waren fast alle politischen Kräfte des Landes beteiligt. Nur nicht die Muslimbruderschaft.

Die neue Führung steht im Schatten der Generäle

Dass diese nun demnächst bereitwillig mit denjenigen über Kompromisse verhandeln werden, die sie in der vergangenen Nacht aus den Ämtern geschasst haben, darf man bezweifeln. Zumal die Muslimbruderschaft dem Vernehmen nach Jahrzehnten im Untergrund dazu neigt, niemandem mehr zu vertrauen. Kenner beschreiben die Gemeinschaft als "geheimniskrämerisch und starr, unfähig zum Kompromiss." Für die Startchancen einer wankenden Demokratie nicht eben hilfreich. Aber auch nicht zu ändern.

Erschwerend kommt für die neue Führung hinzu, dass sie als Regierung von Gnaden des Militärs betrachtet werden wird. Ohne Zustimmung der Generäle, so viel hat der Umsturz am gestrigen Mittwoch gezeigt, bleibt in Ägypten niemand an der Macht. Zwar hat die Armee Zurückhaltung bei der Neugestaltung der politischen Institutionen gelobt, doch lässt sie am Donnerstag gleichzeitig nach führenden Köpfen der Muslimbrüder fahnden.

"Kein Sieg, sondern ein Desaster"

Das Militär begründete sein Einschreiten mit Mursis Unfähigkeit, auf die Massenproteste gegen seine autoritär-islamistische Politik angemessen zu reagieren und berief sich auf die Millionen Teilnehmer an den Protesten der vergangenen Tage. Verfassungswidrig war ihr Handeln trotzdem. "Das ist kein Sieg, sondern ein Desaster", heißt es nun etwa in kritischeren Einschätzungen von Journalisten im Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit der Demokratie.

Die Bezeichnung "Putsch" lehnen die Generäle jedoch standhaft ab. Sie verweisen darauf, dass sie nicht selbst die Macht übernehmen wollten, sondern aus Notwehr. "Es wird eine starke und kompetente, aus Technokraten bestehende nationale Regierung gebildet, die die komplette Vollmacht hat, in der gegenwärtigen Periode zu regieren", erklärte Armee-Chef Abdel Fattah al-Sisi in seiner Fernsehansprache. So lange es den Generälen passt, mag der ein oder andere Ägypter in Gedanken hinzugefügt haben.

"Putsch" sagen die einen, "Revolution" die anderen

Über die zwiespältige Rolle des Militärs wird entsprechend auch in der Bevölkerung diskutiert. Zumal die Mursi-Gegner von den Generälen als Legitimation für ihr Handeln angeführt werden. Der paradoxe Lage ließ sich am Mittwoch direkt auf dem Tahrirplatz beobachten. Dort feierten Tausende frenetisch dieselben Soldaten, die sie noch vor vier Wochen als Vertreter der Staatsmacht beschimpften.

Eine Reporterin der Zeit hat in einem Beitrag Stimmen aus der Bevölkerung gesammelt, mit denen sich das aktuelle Unbehagen auf den Punkt bringen lässt: "Das war kein Militärputsch, die Armee hat nur auf den Willen des Volkes gehört", zitiert sie einen. "Wir stürzen einfach einen gewählten Präsidenten? Wir begrüßen das Militär wie eine Heilsarmee? Das ist doch ein Armutszeugnis", den anderen.

"Dann lieber den Gottesstaat"

In der Bevölkerung machen sich demnach inzwischen auch die ersten Sorgen breit, die aus dem Präsidentenpalast vertriebenen Muslimbrüder könnten sich dem Neuaufbau des Landes verweigern und stattdessen furchtbar rächen.

Auch Nahost-Experte Michael Lüders teilt diese Einschätzung. "Die Muslimbrüder werden nicht einfach nach Hause gehen und sich in ihr Schicksal fügen", sagt er. Er rechnet damit, dass sich die Islamisten radikalisieren, umgetrieben von der Erfahrung, dass in Ägypten Demokratie nicht funktionieren kann, so lange die Armee am Hebel sitzt. "Dann machen wir lieber den Gottesstaat", hieße die Schlussfolgerung.

Die Risiken sind nicht unbekannt

Die säkularen Kräfte in Ägypten sind sich dieser Risiken aber offensichtlich bewusst. So sprach sich am Donnerstag Ägyptens wichtigste linksliberale Allianz in aller Deutlichkeit gegen einen Ausschluss der islamistischen Parteien aus. Alle politischen Gruppen hätten das Recht, ihre Meinung frei zu äußern und Parteien zu bilden, hieß es in einer Erklärung der Nationalen Heilsfront.

Allgemein begrüßte sie jedoch das Eingreifen des Militärs. Es handle sich nicht um einen Putsch, sondern um "eine notwendige Entscheidung der Armeeführung zum Schutz der Demokratie, zur Wahrung der Einheit des Landes und zur Wiederherstellung der Stabilität".

(pst)
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