Daniel Martin Feige Warum uns Miles Davis heute noch elektrisiert

Der Musikphilosoph Daniel Martin Feige hat eine "Philosophie des Jazz" vorgelegt. Die These: Im Jazz erfahre man etwas über das menschliche Zusammenleben.

Der Jazz ist in der Philosophie angekommen. Der Wissenschaftler Daniel Martin Feige hat soeben bei Suhrkamp eine lesenswerte "Philosophie des Jazz" vorgelegt. Er macht eine wichtige Entdeckung: Im Jazz werden zentrale Aspekte musikalischer Praxis augenfällig, schreibt er. Es gelte: Wer den Jazz versteht, versteht die Kunst im Allgemeinen.

Haben Sie Lieblingsplatten?

Feige "A Love Supreme" von John Coltrane ist im Moment wichtig für mich. Und "You Must Believe In Spring" von Bill Evans, "Introducing" von Brad Mehldau und Enrico Pieranunzi, "Don't Forget The Poet".

Der Jazz ist tot, sagen viele.

Feige Das ist Quatsch.

Können Sie beweisen, dass er lebt?

Feige Nehmen Sie Nils Petter Molvaer oder Bugge Wesseltoft. Was die mit der elektronischen Tanzmusik machen und wie sie sie dem Jazz einverleiben, ist etwas Neues. Oder das Esbjörn Svensson Trio: unheimlich kreativ! Sie haben aber insofern recht, als es keine Epochen mehr gibt wie Bebop, Free Jazz und Jazzrock. Das ist heute aber für alle Kunstformen charakteristisch.

Woran erkenne ich den Jazz?

Feige Es gibt nicht den Jazz. Big-Band-Aufnahmen der 40er Jahre sind etwas anderes als das, was Joe Zawinul gemacht hat. Signifikant sind bei beiden indes Merkmale wie Swing-Rhythmus, Groove, eine Form von Intensität und dialogischer Interaktion und Improvisation. Diese Merkmale müssen aber nicht alle gleichermaßen vorliegen.

Warum denken Sie über Jazz nach?

Feige Was im Jazz deutlich zu Tage tritt, ist etwas, das für alle Musiken gilt. Der Moment des Aufführens ist wesentlich für diese Musik. Und insgesamt gilt, dass Musik nur in ihren Aufführungen lebt.

Ausnahmen gibt es bei Miles Davis. Sein Produzent Teo Macero hat aus jedem Take das Beste extrahiert und zu einer Aufnahme collagiert.

Feige Es kommt darauf an, welche Phase von Miles Sie nehmen.

Ich denke an die späten 60er und frühen 70er Jahre: die Phase von "Bitches Brew" und "On The Corner".

Feige Das stimmt, aber gerade "Bitches Brew" klingt dennoch rough und rau. Vital. Auch heute noch. Egal, was daran gebastelt sein mag, das Grundmaterial sind stets Liveaufnahmen - auch wenn sie im Studio stattgefunden haben.

Ihr Kollege Adorno hasste Jazz.

Feige Jazz war über lange Zeit ein vernachlässigter Gegenstand der Philosophie. Das liegt auch an den polemischen Artikeln von Theodor W. Adorno. Er glaubte, dass Jazz die falschen gesellschaftlichen Zustände reproduziere. Die Improvisation sei in Wirklichkeit gar keine, sondern lediglich formelhaft auswendig gelernt. Sie sei nur eine Illusion von Freiheit. Allerdings nahm er Entwicklungen seiner Zeit gar nicht zur Kenntnis, den Bebop etwa. Er beschrieb den Jazz karikaturhaft.

Sie wagen die Ehrenrettung des Jazz?

Feige Muss ich nicht, nicht wegen Adorno jedenfalls. Er hat ja schlichtweg an der Musik vorbeigehört. Jazz ist einfach ein interessanter Gegenstand. Im Jazz treten Aspekte künstlerischer Praxis deutlicher zutage als in anderen Künsten.

Inwiefern?

Feige Jazz lehrt, dass Kunstwerke gegenwarts-und augenblicksbezogen sind. Sie können lebendig sein, sie können aber auch absterben. Und man erkennt im Jazz deutlicher als anderswo, was es heißt, dass Kunstwerke lebendig sind.

Jazz hören ist ein kunstästhetisch wertvoller Akt?

Feige Besonders deutlich tritt im Jazz die offene Verfasstheit von Kunst hervor. Der Sinn eines Elements der Improvisation ist nichts, was ein für allemal feststeht. Sein Sinn wird erst im Licht späterer improvisatorischer Elemente deutlich. Ob ich nach einer ersten melodischen Phrase eine zweite so oder so spiele, macht einen Unterschied. Sie verändert den Sinn der ersten Phrase, und sie verändert den Sinn alles Folgenden. Natürlich beruht das Improvisieren auf Übung, aber doch eher im Sinn des Eingeübtseins auf das Unvorhergesehene. Es wird ja keine Blaupause abgerufen. In jedem Moment steht und fällt der Sinnzusammenhang dessen, was der Improvisator tut. Deshalb geht es in jedem Moment um alles.

Ich kann also bei "Bitches Brew" Zeitgenossenschaft empfinden?

Feige Zeitgenössisch ist nicht nur das, was heute produziert ist. "Bitches Brew" hat uns noch etwas zu sagen, diese Platte von 1970 macht noch immer etwas mit uns.

Es geht um das Gefühl von Gegenwart?

Feige Nicht nur um ein Gefühl, sondern um eine spezifische Zeitlichkeit, die sich in der Musik ausdrückt. Ich nenne sie im Buch retroaktive Zeitlichkeit. Der Sinn einer Improvisation ist nicht an den Zeitpunkt ihrer Einspielung gebunden. Er wird neu erschlossen in dem Moment, da wir sie hören. Es geht um das, was ein Kunstwerk wirklich ist. Sobald wir im Kunstwerk Sinn entdecken, drückt sich Zeitgenossenschaft aus.

Im Akt des Hörens werde ich mir also meiner selbst bewusst.

Feige Ja, das Werk löst etwas in mir aus. Und das wiederum sagt etwas über mich aus. In diesem Moment erfahre ich etwas über mich. Das ist auf Kunst im Allgemeinen übertragbar. Das, was Kunst mit mir macht, ist ja nicht einfach da draußen, wie es die Atome sind. Das ist historisch und unterliegt einer Bewegung. Dialog und Improvisation sind Aspekte eines menschlichen Standes in der Welt. Dieses Moment der Unabgeschlossenheit und der dialogischen Aushandlung dessen, was zu tun und was zu denken ist: Da tritt etwas hervor, was für die menschliche Lebensform wesentlich ist.

Der Jazz als Spiegel des menschlichen Daseins?

Feige Das ist mir zu existenzialistisch formuliert. Aber im Jazz treten Aspekte dessen hervor, was es heißt, angemessen miteinander umzugehen, aufeinander einzugehen, einander zu antworten. Man weiß im Voraus nicht, was richtig oder falsch ist. Das ist augenfällig im Jazz.

Für Einsteiger: Welche Platte empfehlen Sie?

Feige Miles Davis, "Kind Of Blue".

(hols)
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