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Neue Erkenntnisse der Archäologie Das geheime Leben der Neandertaler

Interview | Düsseldorf · Sie betrieben Brandrodung, pflegten ihre Kranken und sind streng genommen nie ausgestorben. Viele der Dinge, die wir über Neandertaler zu wissen glauben, werden gerade von der Archäologie widerlegt. Ein Interview über unseren nächsten Verwandten.

Was wissen wir eigentlich über Neandertaler?

Sabine Gaudzinski-Windheuser Die Neandertaler sind eine Menschenform, die unmittelbar in uns anatomisch modernen Menschen aufgegangen ist. Sie sind also unsere allernächsten Verwandten. Untersuchungen alter DNA-Analysen belegen sehr schön, dass wir heute immer noch genetisches Material mit dem Neandertaler teilen. Und übrigens auch viele Verhaltensweisen, die in der Zeit des späten Neandertalers entstanden sind.

Wann haben die Neandertaler gelebt?

Gaudzinski-Windheuser Je nachdem, wann Sie den Neandertaler in der Vergangenheit ansetzen möchten, sind wir da so in der Zeit zwischen 400.000 und 350.000 vor Christus. Aus dieser Zeit stammen die ersten Fossilien, die uns darüber Auskunft geben, dass sich eine solche Menschenform in Europa entwickelt hat.

Und der Neandertaler heißt so, weil der erste in der Nähe von Düsseldorf gefunden wurde?

Gaudzinski-Windheuser Ja, aber das ist eigentlich eine forschungsgeschichtliche Kapriole. Der allererste Neandertaler wurde in Belgien gefunden. Das wurde aber erst sehr viel später entdeckt. Die Funde aus dem Neandertal sind dann letztendlich die, die in die Fachwelt eingegangen sind und die der Form ihren Namen gegeben haben.

Der Neandertaler lebte ja nicht nur in der Nähe von Düsseldorf und in Belgien, er lebte eigentlich überall in Europa und auch in Asien.

Gaudzinski-Windheuser Ja, vom Atlantik bis zum Ural – und auch in verschiedenen Teilen Asiens.

Wie viele Neandertaler gab es denn?

Gaudzinski-Windheuser Wir haben Fossilien von 350 bis 400 Individuen überliefert. Wie groß die Populationen tatsächlich waren, können wir aber nur über sogenannte Proxys ermitteln. Also über Modellierungen, die uns darüber Auskunft geben, wie groß eine Population sein muss, um zu überleben. Oder wie hoch eine Populationsdichte sein muss, damit Innovationen nicht einfach wieder verschwinden.

Für einen so langen Zeitraum sind das vergleichsweise eher wenige Zeugnisse. Wie wissen Sie, wie der Neandertaler war?

Gaudzinski-Windheuser Wenn wir Aussagen über Neandertaler machen wollen, dann können die Skelette, also die Körper dieser Menschen, natürlich helfen. Aber die hauptsächlichen Informationen bekommen wir über den archäologischen Nachweis. Das ist die Quelle, die uns über das Verhalten der Neandertaler Auskunft gibt. Und die Kunst ist, ihr Verhalten aus diesen materiellen Relikten zu destillieren.

Die Neandertaler waren sehr erfolgreich im Überleben.

Gaudzinski-Windheuser Wir reden über eine Menschenform, die es länger geschafft hat als wir heute. Wir sind in Europa gerade mal einige zehntausende Jahre unterwegs. Wenn Sie überlegen, dass der Neandertaler rund 300.000 Jahre überlebt hat, dann kann man letztendlich nur schlussfolgern, dass das eine sehr erfolgreiche Art der Anpassung gewesen sein muss.

Und was hat er gemacht, um überleben zu können?

Gaudzinski-Windheuser Grundsätzlich sehen wir schon vor 1,6 Millionen Jahren, wie der Mensch seine ökologische Nische ausbuchstabiert hat. In der Zeit des Neandertalers hat dieses Ausbuchstabieren nochmal eine andere Fahrt aufgenommen. Da haben sich zum Beispiel Verhaltensdispositionen entwickelt, die für uns heute noch maßgebend sind. In der Zeit des späten Neandertalers sehen wir zum Beispiel, dass Empathie eine große Rolle zu spielen beginnt. Oder wir sehen, dass Traditionen eine sehr viel stärkere Rolle im materiellen Niederschlag spielen.

Woran erkennen Sie, dass die Neandertaler so etwas wie Mitgefühl hatten?

Gaudzinski-Windheuser Wir sehen beispielsweise, dass Alte versorgt worden sind, die sich nicht mehr selbst versorgen konnten. Wir sehen auch, dass Kranke aufgepäppelt wurden. Es gibt sogar einen Nachweis, dass es zu einer Arm-Amputation gekommen ist. Das sind Verletzungen, die von anderen versorgt werden mussten, damit das Individuum überleben konnte.

Macht es eine Gruppe also überlebensfähiger, wenn die Mitglieder in der Lage sind, sich umeinander zu kümmern?

Gaudzinski-Windheuser Wir lernen in unserer Kindheit und in unserer Jugend. Und den Benefit aus diesem Lernen, den schöpfen wir erst in unseren späteren Lebensphasen ab. Das ist bei den Neandertalern auch so gewesen. Es wird postuliert, dass sie vielleicht eine etwas kürzere Reifezeit hatten - aber im Prinzip hat es bei ihnen genau so funktioniert.

Das heißt, Neandertaler wurden schneller erwachsen?

Gaudzinski-Windheuser Ja, das Jugendalter war offenbar etwas verkürzt. Zumindest im Gegensatz zu dem, was wir bei anatomisch modernen Menschen sehen. Aber wir sehen, das Lernen über soziales Lernen funktioniert. Und es sind Mitglieder der Gruppe, die diesen ganzen Prozess haben tragen müssen. Es ist sicherlich auch kein Zufall, dass wir zum ersten Mal beim Neandertaler drei Generationen in einer Gruppe sehen. Natürlich beschäftigt uns auch in diesem Zusammenhang die Frage, warum es nur beim Menschen ein Überleben nach der Menopause, also nach den Wechseljahren gibt. Eine Zeit, in der man nicht mehr reproduktiv aktiv ist, was übrigens für Männer genauso gilt wie für Frauen.

Sie meinen also vereinfacht gesagt: Eine Kultur, die sich Menschen leistet, die weder Kinder bekommen können noch besonders unkompliziert im Umgang sind, erkennt oder weiß, dass man im späteren Lebensalter von vorher Gelerntem besonders profitiert und es dann auch weitergeben kann?

Gaudzinski-Windheuser Ja, und das ist ja auch naheliegend. Zum Beispiel, wenn Sie sehen, dass die Neandertaler saisonal Tierherden ausgebeutet haben, was im Grunde Großwildjagden waren. Das war gefährlich! Vor allem für die Bewaffnung, mit der die Neandertaler an den Start gegangen sind, brauchte es sehr viel Erfahrung und Wissen.

In der landläufigen Vorstellung ist die Bewaffnung eines Jägers und Sammlers eine Keule. Stimmt das?

Gaudzinski-Windheuser (lacht) Nein. Was wir aus dem archäologischen Nachweis kennen, sind hölzerne Lanzen und Wurfspeere, die auf kurze Distanz benutzt wurden.

Stimmt denn die Vorstellung, dass eine Gruppe aus Jägern und Sammlern durch ganz Europa streift, um ein Mammut zu jagen und im Sommer Samen und Früchte sammelt, die sie konserviert?

Gaudzinski-Windheuser Na ja, das ist eine sehr vereinfachte Vorstellung, die uns in diesem Zusammenhang immer wieder begegnet und die in weiten Teilen auch nicht stimmt. Das Bild ist eigentlich sehr viel bunter. Neandertaler waren zum Beispiel mehr oder weniger standorttreu in ihren Territorien. Die kannten sich sehr gut aus, wenn es darum ging, Wildrouten immer wieder zu besuchen und saisonal auszubeuten. Sie kannten sich auch sehr gut aus, was das Verhalten der Tiere anging. Und auch, was das Rohmaterialvorkommen betraf. Mit einer Menschenform, die in der Landschaft herumdümpelt und das ausbeutet, was ihr so begegnet, hatte das wenig zu tun.

Haben Neandertaler Ackerbau betrieben?

Gaudzinski-Windheuser Nein. Dafür habe wir überhaupt keine Hinweise. Wir sehen aber immer wieder indirekt, dass der Neandertaler ein ganz hervorragender Pyrotechniker gewesen sein muss, also das Feuer beherrscht hat. Und wir haben einen Hinweis auf eine Substanz, die vermutlich zum Gerben von Fellen verwendet worden ist. Das liefert einen indirekten Hinweis auf Kleidung.

Ein Indikator für die Entwicklung einer modernen Kultur ist ja auch der Totenkult. Haben die Neandertaler ihre Toten beerdigt?

Gaudzinski-Windheuser Da muss ich ein wenig ausholen. Der Neandertaler unterscheidet sich in vielen Facetten des Lebens nicht wirklich von dem anatomisch modernen Menschen. Was ihn schon unterscheidet ist, dass der Mensch vor 45.000 Jahren in Europa angefangen hat, sich in Regeln und Regelwerken zu organisieren. Das passiert, wenn Gruppen so groß werden, das Vereinbarungen nicht mehr nur verbal kommuniziert werden können. Zu dieser Zeit gab es also die ersten Gesellschaftssysteme. Das setzt natürlich als Motivation voraus, dass ich letztendlich auch eine Welt jenseits der Sinneswahrnehmung denken muss. Es gibt im Grunde eine besondere Belohnung, wenn ich mich konform verhalte und eine besondere Bestrafung, wenn ich mich nicht konform verhalte. Und das ist etwas, was der Neandertaler nicht tut: Er organisiert sein Leben nicht in Regeln und Regelwerken. Das heißt nicht, dass er seine Toten nicht niederlegt, er hatte Respekt vor den Toten. Aber wir erkennen keine Historizität, zum Beispiel über Beigaben, die zeigen, dass ein Mensch eine bestimmte Funktion im Leben hatte. Es wurden auch keine Gräber ausgehoben. Die Toten wurden an bestimmten Orten niedergelegt.

Wie groß waren die Gruppen, in denen Neandertaler gelebt haben?

Gaudzinski-Windheuser Wir gehen bislang davon aus, dass Neandertaler in Gruppen von etwa zwanzig Individuen zusammengelebt haben. Und dass sie enge Kontakte zu anderen Gruppen hatten. Es gibt allerdings nur wenige, schlaglichtartige archäologische Nachweise, die das tatsächlich belegen.

Konnten die Neandertaler sprechen?

Gaudzinski-Windheuser Ja, davon gehen wir aus. Auf der einen Seite hatten sie die anatomischen Voraussetzungen dafür. Und wir sehen auf der anderen Seite archäologische Nachweise, dass Traditionen weitergegeben wurden. Das wäre ohne Sprache nur schwer möglich gewesen.

Sie haben gesagt, dass die Neandertaler ihre Alten gewürdigt haben. Wie alt sind Neandertaler geworden?

Gaudzinski-Windheuser Wir sehen, dass diese Menschen tatsächlich über 60 Jahre alt werden konnten.

Eigentlich würde man ja eher vermuten, dass die Menschen bei ihrem harten Leben gar nicht besonders alt werden konnten.

Gaudzinski-Windheuser Na ja, wir haben ja eben schon besprochen, dass die Vorstellung von einer armen Kreatur, die durch die Landschaft läuft und das ausbeutet, was ihr vor die Füße fällt, falsch ist. Der Neandertaler hat viele Dinge getan, die nichts mit Überlebenskampf zu tun haben. Er hat zum Beispiel die größten und gefährlichsten Tiere seiner Zeit gejagt …

… weil er zeigen wollte, dass er das kann?

Gaudzinski-Windheuser Genau. Eine andere Erklärung haben wir nicht dafür. Und wahrscheinlich sind in dieser Zeit sehr viele Dinge entstanden, die sich nicht aus einem Kosten-Nutzen-Aspekt erklären lassen.

Sie haben in Ihrer Forschung nachgewiesen, dass der Neandertaler das Landschaftsbild verändert hat. Auch etwas, was man normalerweise nicht mit Jägern und Sammlern in Verbindung bringt. Warum hat er das gemacht?

Gaudzinski-Windheuser Es gibt in Sachsen-Anhalt in einem ehemaligen Braunkohletagebau eine Fundstelle, Neumark-Nord. Die wird seit den 1980er Jahren untersucht. Eine 26 Hektar große Seenlandschaft, die ganz einzigartige Nachweise geliefert hat. Und dort sehen wir, dass der Mensch hier in einer Warmzeit lebte, vor etwa 120.000 Jahren. Das ist eine Warmzeit, die wir sehr gut kennen, für die wir also Temperaturen und Niederschläge rekonstruieren können. Jede Warmzeit zeichnet sich durch unterschiedliche Klimaphasen aus. Und wenn der Neandertaler nach Neumark-Nord kommt, sehen wir einen sprunghaften Anstieg an Holzkohle im Sediment. Wir haben natürlich intensiv darüber debattiert, ob dieser hohe Anteil an Holzkohle auf natürliche Feuer zurückzuführen ist. Wir sind aber zu dem Ergebnis gekommen, dass das offenbar nicht der Fall war. Dieser hohe Feueranteil in diesen Sedimenten, der ist unverkennbar von Menschen gemacht.

Haben die Neandertaler da etwas gebraten oder haben sie Sachen verbrannt, damit sie einen besseren Blick hatten?

Gaudzinski-Windheuser Gleichzeitig sehen wir in diesen Sedimenten auch, dass wir nicht die Vegetationsfolge haben, die wir eigentlich erwarten. Sondern was wir in der Hauptsache haben, sind Pflanzen, die uns anzeigen, dass Landschaft offen gehalten wurden. Und wenn man diese beiden Argumente zusammennimmt, muss man schlussfolgern, dass der Neandertaler Feuer genutzt hat, um Landschaften offen zu halten. Er hat also massiv auf seine Umwelt eingewirkt, um die Landschaft zu gestaltet.

Und was hat ihm das gebracht?

Gaudzinski-Windheuser Die Bewaldung zu dieser Zeit ist in der Regel sehr undurchdringlich gewesen. In einer offenen Landschaft ist Überleben wesentlich einfacher als in geschlossenen Wäldern, weil man Platz und Überblick hat.

Wissen wir, wer in der neandertalischen Gesellschaft das Sagen hatte – Männer oder Frauen?

Gaudzinski-Windheuser Das können wir nicht sagen. Das wirklich Spannende ist, dass diese Unterscheidung in den überwiegenden Phasen des Pleistozäns gar keine Rolle gespielt hat. Das sagt natürlich auch sehr viele aus.

Männer und Frauen haben dieselben Aufgaben wahrgenommen?

Gaudzinski-Windheuser Offenbar. Es gibt Studien, die sagen, Männer hätten ihre Arme für andere Aktivitäten benutzt als Frauen – aber die sind nicht besonders schlüssig. Und weiter sind wir da auch nicht.

Das heißt, die heutigen Geschlechterbilder sind erst mit dem modernen Menschen entstanden?

Gaudzinski-Windheuser Ja, und das hatte auch wieder mit Regeln und Regelwerken zu tun.

Was hat der Neandertaler gemacht, was uns heute noch begleitet?

Gaudzinski-Windheuser Viele unserer menschlichen Bedürfnisse sind in der Zeit des Neandertalers angelegt. Diese Bedürfnisse haben sich bis heute nicht großartig verändert. Und wir haben in der gesamten pleistozänen Archäologie keinen Hinweis darauf, dass kriegerische Auseinandersetzungen eine Rolle gespielt haben. Das ist tatsächlich etwas, was erst anfängt, wenn ökonomische Engpässe auftreten. Das ist gerade vor dem Hintergrund des momentanen Krieges ein sehr wichtiges Signal. Denn das zeigt doch im Grunde, dass der Menschen keine aggressive Spezies ist und Krieg nicht etwas, was uns in die Wiege gelegt wurde.

Die Fragen stellte Ursula Weidenfeld. Protokolliert von Alexandra Eul.

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