Land sucht die Reißleine Wird die zweite Corona-Welle in Belgien zum „Tsunami“?

Brüssel · In Belgien liegen die 14-Tages-Werte je 100.000 Einwohner fast zehn Mal so hoch wie in Deutschland. Die Testkapazitäten sind völlig überlastet. Nun werden Maßnahmen geprobt, die Deutschland womöglich auch bald blühen könnten.

 Zwei Polizeibeamte patrouillieren zu Beginn der Ausgangssperre durch die Stadt.

Zwei Polizeibeamte patrouillieren zu Beginn der Ausgangssperre durch die Stadt.

Foto: dpa/Thierry Roge

Kneipen geschlossen, Alkoholverkaufsverbot ab 20.00 Uhr, nächtliche Ausgangssperre: Belgien sucht in der zweiten Corona-Welle verzweifelt die Reißleine, ohne das Land wieder komplett lahm zu legen. Noch sind Läden und Schulen offen, noch dürfen bei Sportveranstaltungen einige Hundert Leute ins Stadion. Aber auch das ist vielleicht nur eine Frage der Zeit. Denn das kleine Land fürchtet einen „Tsunami“, so hat es Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke genannt. Und es probt nun Maßnahmen, die Deutschland womöglich auch bald blühen könnten.

8422 neue Infektionen pro Tag registrierte das Gesundheitsinstitut Sciensano im Durchschnitt in der Woche bis 16. Oktober, 69 Prozent mehr als in der Woche zuvor. In der Spitze waren es vorigen Dienstag sogar mehr als 12.000 Ansteckungen. Dabei hat Belgien nur 11,5 Millionen Einwohner, Deutschland dagegen 83 Millionen. Je 100.000 Einwohner hatte Belgien nach Angaben des Europäischen Seuchenzentrums ECDC binnen 14 Tagen knapp 830 neue Fälle, rund zehn Mal so viele wie Deutschland mit 84.

Der erst Anfang Oktober gestartete neue Regierungschef Alexander De Croo steckt mitten in einer historischen Bewährungsprobe und versucht es mit Appellen. „Wir spielen alle in derselben Mannschaft“, sagte er zu dem seit Montag geltenden Teil-Lockdown. „Alle zusammen werden wir es schaffen.“ Die Maßnahmen seien drastisch, aber es helfe jetzt nur, alle Kontakte maximal einzuschränken. Private Treffen sind nur mit denselben vier Personen binnen 14 Tagen erlaubt, im öffentlichen Raum dürfen nicht mehr als vier Personen zusammenstehen.

Man tue dies, damit die Kinder weiter zur Schule gehen könnten und auch, um die Kliniken zu schützen, sagte De Croo. Der Druck auf die Krankenhäuser und ihr Personal sei enorm, ergänzte sein Gesundheitsminister Vandenbroucke. „Die Situation ist schlimmer als am 18. März, schlimmer als zu Beginn des Lockdowns“ im Frühjahr. Die Testkapazitäten sind völlig überlastet.

Am Dienstag lagen 2774 Patienten mit Covid-19 in den belgischen Kliniken, davon 446 auf Intensivstationen, wie die Nachrichtenagentur Belga meldete. Täglich kommen im Schnitt knapp 267 Patienten neu in die Klinik, 95 Prozent mehr als in den sieben Tagen vorher. Täglich sterben rechnerisch 32 Menschen in Belgien an oder mit dem Virus, 15 Prozent mehr im Vergleich zur Vorwoche. Seit Ausbruch der Pandemie waren es bereits 10.443 - mehr als im ungleich größeren Deutschland.

Warum es Belgien nach der dramatischen ersten Welle im Frühjahr nun schon wieder so hart trifft, ist nicht ganz leicht zu erklären, zumal das Land schon vor Wochen auf steigende Zahlen in Antwerpen und Brüssel reagierte, die Maskenpflicht ausweitete und lokale Einschränkungen erließ. Klar ist: Es ist ein kleines Land, in dem ständig kreuz und quer gereist wird, die Belgier lieben ihre Restos, ihr Feierabendbier und ihre Wangenküsschen zur Begrüßung. Der zwischen Flamen und Wallonen zerstrittene Staat findet nur schwer eine gemeinsame Linie, und wenn es gelingt, wird sofort daran gemäkelt, wie jetzt nach der Schließung von Kneipen und Restaurants.

Die Menschen hätten das Thema wohl mental ausgeblockt, sagte Nathan Clumeck, emeritierter Professor für Infektionskrankheiten der Freien Universität Brüssel, am Dienstag dem Sender RTBF. „Man hat Schwierigkeiten, eine nahende Katastrophe zu akzeptieren.“ Auch in Belgien hätten Experten lange debattiert, ob im Herbst nur ein Wellchen komme, eine Mini-Welle.

Man habe sich der Illusion hingegeben, dass man folgenlos verreisen könne, man habe sogar die Verträge mit den Experten auslaufen lassen, die Kontakte von Infizierten nachverfolgen sollten. Tatsächlich hätte man sich besser vorbereiten können, sagte Clumeck. Die Ansage, dass man nun erst einmal 15 Tage die Wirkung der neuen Corona-Maßnahmen abwarten wolle, sei wohl zur Beruhigung der Menschen gedacht - die genauso deprimiert auf den nahenden Corona-Winter blicken wie die Deutschen. Aber das Risiko eines neuen Lockdowns bestehe durchaus, sagte der Experte.

(lha/dpa)
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