Russland nach den Überflutungen Wie ein handgemachter Tsunami

Krimsk · Das Wasser kam um zwei Uhr nachts. Es stieg in Minutenschnelle bis auf eine Höhe von sieben Metern. An den Häuserwänden sind noch seine Spuren zu sehen. Über 170 Menschen starben. Andere retteten sich panisch aufs Dach. Jetzt kehren sie zurück in ihre Häuser. Die Wut auf die Behörden ist groß. Es mehren sich die Hinweise, dass Menschen die Katastrophe verursachten.

Russland: Zurück in verwüsteteten Häusern
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Russland: Zurück in verwüsteteten Häusern

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Das Wasser überraschte viele Menschen im Schlaf. Die Flut in der südrussischen Urlaubsregion Krasnodar riss Autos und Lastwagen um, verwandelte Straßen in tosende Flüsse. Die Erzählungen der Einwohner zeigen auf, wie knapp sie mit dem Laben davon kamen.

"Ich sah aus dem Fenster und bemerkte, dass die Reifen des Autos von Wasser bedeckt waren", erzählt Wladimir Wetrow aus Krymsk, "nach zwölf Minuten schaute ich wieder hin — da versank schon das ganze Auto im Wasser." Der Afghanistan-Veteran behielt die Nerven: Er rettete sich, seine Verwandten und ein paar Gäste aus den USA auf das Dach des Hauses.

Wasser bis zur Kehle

Die Rentnerin Lidija Polinina berichtet, sie und ihre Familie seien durch ein Fenster geflohen: "Unser Haus war bis zur Zimmerdecke überflutet, wir konnten die Tür wegen des Wassers nicht öffnen. Also haben wir das Fenster zerschlagen, um rauszuklettern." Sie habe ihren fünfjährigen Enkel aufs Dach ihres Autos gehievt, und dann seien sie in die Dachkammer geklettert. "Ich weiß nicht, wie wir es geschafft haben zu überleben."

Auch der Rentner Bogomasow hatte Glück und wurde rechtzeitig gerettet - wie seine Nachbarin, der das Wasser nach seiner Schilderung bis zur Kehle stand. "Fünf Minuten später wäre sie tot gewesen."

Jetzt stehen die Überlebenden vor den Trümmern ihrer Existenz. Bis auf das Hemd am eigenen Leib ist ihnen kaum etwas geblieben. Mehr als 25. 000 Menschen verloren ihren Besitz ganz oder teilweise.

In zwei Stunden so viel Regen wie sonst in zwei Monaten

Im Haus des Rentners Bogomasov steht das Wasser noch immer 30 Zentimeter hoch. "Es gibt viel zu tun", sagt er. Immerhin sieht er sich in seiner Notunterkunft in einem Kindergarten gut versorgt. In Krymsk klagen die Menschen über fehlendes Trinkwasser.

Bislang haben Rettungskräfte 171 Tote geborgen. Rund 2800 Bewohner mussten aus der betroffenen Gegend evakuiert werden. Am Wochenende erschwerten weitere Regenfälle die Rettungsarbeiten. Mehr als 30.000 Haushalte waren ohne Strom und Gas. Die Behörden maßen einen Wasserstand von bis zu sieben Metern über der Norm.

Knapp zwei Tage nach der Katastrophe geraten zunehmend die Ursachen der Katastrophe in den Fokus: Fakt ist bislang: In der Nacht auf Samstag war in der Region 1200 Kilometer südlich von Moskau innerhalb von zwei Stunden so viel Regen gefallen wie sonst in zwei Monaten. Das Katastrophengebiet reicht von dem Schwarzmeer-Badeort Gelendschik über die Hafenstadt Noworossijsk bis hin zur landwirtschaftlich geprägten Kleinstadt Krymsk.

Krisensitzung am Wasserreservoir

Doch erheben darüberhinaus die Einwohner von Krymsk massive Vorwürfe gegen die Behörden. Die Flutung eines nahe gelegenen Wasserreservoirs soll die Hochwasserwelle noch gesteigert haben. "Jetzt wird das verschwiegen, aber mein Vater hatte in der Nacht Dienst im Wasserreservoir von Nerberdschaew, und es gab eine Krisensitzung, wo entschieden wurde, ob man die Schleusen öffnen soll oder nicht", schreibt Julia Andropowa aus Krymsk im sozialen Netzwerk Vkontakte.

Am Ende seien die Schleusen geöffnet worden, damit sich die Wassermassen nicht auf die Hafenstadt Noworossijsk ergießen, sondern auf Krymsk. Der Chef der liberalen russischen Oppositionspartei "Jabloko", Sergej Mitrochin, bestätigte, seine Partei habe ähnliche Informationen. In den betroffenen Gebieten sprechen die Menschen inzwischen von einem "handgemachten Tsunami".

"Das ist eine Lüge"

Auch sollen die Verantwortlichen nicht rechtzeitig gewarnt haben. "Es gab keine Warnung über Sirenen oder Lautsprecher", schreibt eine Frau aus Moskau, die Verwandte in Krimsk hat, über den Kurznachrichtendienst Twitter. "Alle haben geschlafen."

"Das ist eine Lüge", wie ein Verantwortlicher in Krymsk, Wladimir Ulanowsky, die Kritik aus der Bevölkerung zurück. "Wir sind durch die Stadt gefahren und haben an Tore und Fenster geklopft", sagt er im Fernsehen. "Ich war vor Ort, ich habe die ganze Zeit Menschen gerettet."

Am Montag räumen die Behörden Fehler ein

Präsident Wladimir Putin besuchte die Unglücksregion am Wochenende. Er erhöhte den Druck auf die Behörden und kündigte eine Untersuchung an. Den heutigen Montag erklärte Putin zum Tag der nationalen Trauer. Am Kreml und an weiteren Regierungs- und Behördengebäuden hingen die Flaggen am Montag auf Halbmast, Unterhaltungsprogramme im Rundfunk wurden ausgesetzt. In den Medien des Landes wurden schwere Vorwürfe gegen die Behörden erhoben.

Noch am Wochenende hatten die beschuldigten Behörden jegliche Schuld von sich gewesen. Am Montag ruderten sie erstmals zurück und räumten Fehler ein. Die Bevölkerung sei vor der nahenden Gefahr nicht in vollem Umfang und wie vorgeschrieben alarmiert worden. "Seitens der Leiter vor Ort sowie der Dienststellen sind Fehler gemacht worden", sagte der russische Zivilschutzminister Wladimir Putschkow am Montag nach Angaben der Agentur Interfax.

Die Zeitung "Iswestija" warf den Behörden "Schlampigkeit" vor. Die Zeitung "Wedomosti" schrieb, die Katastrophe zeige die "Unfähigkeit der Behörden auf, die Bevölkerung vor Naturkatastrophen zu schützen". Die Menschen seien nicht in Sicherheit gebracht und nicht gewarnt worden.

(AFP/dpa)
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