Ratingen/PoziÉres Kammerchor als Botschafter für Versöhnung

Ratingen/PoziÉres · Eine Delegation des Ratinger Kammerchors besuchte die Gedenkfeier zur Beendigung des 1. Weltkriegs am 11. November im französischen Poziéres. Zuvor beteiligte sich der Chor an einem Musiktheaterstück, das ebenfalls mit dem Krieg zu tun hat.

Als im Herbst 2013 das Theater Kontra-Punkt aus Düsseldorf an mich herantrat mit der Frage nach der Mitwirkung des Ratinger Kammerchors bei einem Musiktheaterprojekt zum 1. Weltkrieg, konnte wirklich niemand ahnen, welche Dimension in der Zusage zu diesem Projekt steckte, auch wenn aufgrund vorangegangener Zusammenarbeit klar war, dass es ein spannendes und einmaliges Unterfangen würde: "Ivan & Rudolf", so der Titel des Musiktheaterstücks, das im Rahmen des "düsseldorf festival" Ende September von 14 Schauspielern, Sängern, Instrumentalisten und dem Ratinger Kammerchor in Kooperation mit dem belgischen Théatre Maât aus Brüssel zur Uraufführung gebracht wurde und Akteure aus acht Nationen vereinte.

Allein die unglaubliche Geschichte, auf der dieses Stück fußt, nämlich die Spurensuche zweier australischer Freunde in den Mittvierzigern, Benjamin Walker und Adam Phillips, die zutage fördert, dass ihre Ahnen Ivan Walker und Rudolf Gillitzer im Abstand von einem Monat 1916 in der Schlacht an der Somme fielen, stieß natürlich bei allen an diesem Projekt Beteiligten auf großes Interesse und Neugier, zumal die Ereignisse des Ersten Weltkrieges doch meist nicht so geläufig sind wie die des Zweiten Weltkriegs. Die Aufführungen wurden ein großer Erfolg und haben überregional Beachtung gefunden.

Als die Theatermacher aus Düsseldorf vor einem Jahr anlässlich der Gedenkfeiern zum Ende des Ersten Weltkriegs als Forschungsreisende nach Poziéres (an der Somme) fuhren, um sich einen Eindruck vom Handlungsschauplatz des Theaterstücks zu verschaffen, entstand ein lebhafter Austausch mit dem dortigen Bürgermeister Bernard Delattre hinsichtlich einer zeitgemäßen Erinnerungskultur unter dem Gesichtspunkt eines vereinten Europas.

Hatten bis dato die Franzosen doch "nur" ihrer eigenen Gefallenen und der Alliierten gedacht, entstand die Idee, in diesem Jahr - erstmals nach 96 Jahren - auch Blumen auf dem deutschen Soldatenfriedhof im benachbarten Fricourt niederzulegen und damit ein Zeichen der Versöhnung zu setzen. Die Einladung, an diesem denkwürdigen Feieraugenblick teilzunehmen, erging auch an den Ratinger Kammerchor. Der Entschluss, mit einer sechsköpfigen Delegation des Ratinger Kammerchors an dem besonderen Tag vor Ort zu sein und das Gedenken auch musikalisch mitzugestalten, war schnell gefasst und wurde von der Stadt Ratingen finanziell unterstützt.

Die Fahrgemeinschaften waren schnell gebildet und so reisten wir am Vorabend an. Bereits vor Beginn der Feierlichkeiten am nächsten Morgen stand über den nebelverhangenen Ortschaften alles im Zeichen der Feierlichkeiten. Man begegnete uniformierten dort Briten, Australiern oder Belgiern. In Poziéres wurde zunächst der örtlichen Gefallenen gedacht, deren auf einer Stele verewigten Namen verlesen wurden. Neben den Nationalhymnen Frankreichs und Australiens erklang erstmals auch die deutsche Nationalhymne. Nach zehnminütigem Fußmarsch ging es dann zum Soldatenfriedhof der australischen Kriegsopfer. Auch hier erklang zum ersten Mal die deutsche Nationalhymne. Hier war es nicht mehr möglich, sämtliche Namen der australischen Gefallenen zu verlesen - es sind schlichtweg zu viele. Die dritte Station war dann der fünf Autominuten entfernte deutsche Soldatenfriedhof in Fricourt, Ruhestätte von über 20 000 Soldaten. Es wurden Blumen und Kranz niedergelegt und die Akteure der Theaterproduktion trugen unter freiem Himmel Texte sowie einzelne Musikstücke aus "Ivan & Rudolf" vor, was alle sehr bewegte.

In einer Kreuzreihe wurde ich auf Blumen aufmerksam, die an ein Kreuz gelegt waren. Ich ging dorthin und entdeckte ein Hinweisschreiben, auf dem zu lesen war, dass im vergangenen Jahr nach jahrelanger Recherche das Grab eines Vorfahren entdeckt wurde. Auch dies ein emotionaler Moment. Nach dem Gedenken wurde dann in ein Gemeindehaus eingeladen. Im Laufe dieser Begegnungsstunden überreichte das Theater Kontra-Punkt persönliche Begleitschreiben von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und von Düsseldorfs Oberbürgermeister Thomas Geisel. Im Anschluss überreichte ich ein Begleitschreiben des Ratinger Bürgermeisters Klaus Konrad Pesch. Bürgermeister Delattre freute sich sehr, denn die Begleitschreiben gaben eine Antwort auf eine Frage, die ihn offenbar schon lange beschäftigte: "Wo bleiben die Deutschen an diesem Tag?" Natürlich haben die Deutschen mit der Kriegsgräberfürsorge eine Form des Nicht-Vergessens gefunden und gedenken am Volkstrauertag der Kriegsopfer beider Weltkriege, aber sie waren eben bis zum heutigen Tage nie hier anwesend. Nun aber waren sie da! Das freute Delattre umso mehr, weil zeitgleich im nordfranzösischen Notre-Dame-de-Lorette der französische Präsident Hollande einen Erinnerungsring für rund 600 000 Soldaten mit namentlicher Nennung in alphabetischer Reihenfolge, unabhängig von Nationalität, Dienstgrad und Religionszugehörigkeit, einweihte. Sichtlich gerührt von dieser Konstellation bedankte sich Delattre für diesen historischen Moment in seinem 250-Seelen-Dorf und sagte: "Wir versöhnen die Feinde von gestern."

Eine Städtepartnerschaft zwischen Poziéres und Ratingen ist wegen der Unterschiedlichkeit der Einwohnerzahlen jedoch nicht naheliegend. Es gibt aber ein Vorhaben, das mit vereinten Kräften realisiert werden könnte. In Poziéres gab es eine Windmühle, die sich deutsche Soldaten im Ersten Weltkrieg aufgrund ihrer vorteilhaften Lage für den Beschuss von Feinden als Stellung erobert hatten. Delattre möchte diese Windmühle wieder aufbauen und ein Friedensmuseum daraus machen, bei dem auch die Liste deutscher Gefallener ausgestellt werden soll. Dafür braucht Poziéres Hilfe.

Vielleicht kann so gemeinsam ein Stück Zeitgeschichte geschrieben werden.

(RP)
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