Interview mit Mönchengladbacher Pfarrer Klaus Hurtz „Wir dürfen nicht alles hinnehmen“

Mönchengladbach · Pfarrer Klaus Hurtz, neuer Regionalvikar, spricht über die Geschehnisse in Chemnitz, Parallelen zur Weimarer Republik und sein neues Amt.

 Pfarrer Klaus Hurtz wurde von Bischof Helmut Dieser zum Regionalvikar für Mönchengladbach ernannt. Seine Amtszeit geht drei Jahre.

Pfarrer Klaus Hurtz wurde von Bischof Helmut Dieser zum Regionalvikar für Mönchengladbach ernannt. Seine Amtszeit geht drei Jahre.

Foto: Reichartz,Hans-Peter (hpr)

Herr Hurtz, wie bewerten Sie die Vorkommnisse in Chemnitz? Driftet unsere Gesellschaft auseinander?

Hurtz Die Gesellschaft scheint mir tief gespalten zu sein. Der Vandalismus hat auch die Köpfe erreicht. Ich sehe mit Sorge und auch Angst, wie mit Menschen umgegangen wird, wie brutal und hemmungslos Menschen beschädigt werden. Dunkle Geister, von denen wir lange glaubten, sie seien gebannt, stehen wieder auf. Wenn Hemmschwellen überschritten werden, eskalieren Situationen in atemberaubender Geschwindigkeit.

Pfarrer sind in solchen Situationen gefragte Gesprächspartner und auch Ratgeber: Was müssen sich Menschen in unserer Gesellschaft wieder stärker bewusst machen?

Hurtz Alte Werte müssen neu entdeckt werden und die Sekundärtugenden Anstand und Höflichkeit sind neu zu lernen. Die Anonymisierung im Internet verleitet offensichtlich zu Ausfällen und unerträglichen Grenzüberschreitungen. Das ist eine schreckliche Entwicklung, die dazu führt, dass der Mensch dem Menschen wieder zum Wolf wird. Deshalb müssen wir dort ansetzen.

Sehen Sie Parallelen zur Weimarer Republik?

Hurtz Als Schüler habe ich mich intensiv mit der Weimarer Republik und der Machtübernahme durch die Nazis beschäftigt und mich immer gefragt, wie das passieren konnte. Ich habe immer geglaubt, dass sich das nicht wiederholen könne, weil die damals gemachten Erfahrungen durch den furchtbaren Blutzoll tief in die Seelen der Menschen eingebrannt sind. Deshalb überrascht mich die aktuelle Entwicklung. Ja, ich sehe Parallelen, auch wenn jede geschichtliche Stunde anders ist.

Jüdisches Leben ist inzwischen auch in Deutschland immer mehr bedroht. Antisemitismus ist wieder gesellschaftsfähig geworden. Sehen Sie die Gefahr eines Exodus von Juden aus Deutschland?

Hurtz Wenn es so käme, müssten wir alle verzweifeln. Als Paul Spiegel in St. Franziskus zu Gast war, erzählte er von seinen dramatischen Kindheitserinnerungen. Solche Zeiten darf es kein zweites Mal gegeben. Die Erzählung hat damals alle Zuhörer sehr erschüttert und ich war dankbar, dass er auch von Menschen berichten konnte, die ihre Menschlichkeit nicht verloren hatten, sondern halfen.

Ein anderes Thema: Sie sind vom Bischof zum Regionalvikar ernannt worden. Erklären Sie doch bitte einem Laien, was die Aufgabe eines Regionalvikars ist.

Hurtz Die Aufgabe ist die eines Scharniers zwischen Bistumsleitung und pastoraler Arbeit in einer Region. Das ist eine große Aufgabe und gottlob wurde ich nicht allein ernannt, sondern ich bin Teil eines Teams. Ich hoffe und baue darauf, dass die Aufgabe, nämlich die Wünsche von unten nach oben zu vermitteln und die Entwicklungen zu kommunizieren, gemeinsam gelingt.

Gibt es Unterschiede zum bisherigen Amt des Regionaldekans?

Hurtz Einen Unterschied habe ich ja schon genannt: es gibt ein Team. Und die Amtszeit ist auf drei Jahre begrenzt. Für mich endet sie am 31. Dezember 2021. Dann kann, darf und werde ich die Verantwortung wieder abgeben.

Es gab Ärger wegen der Umwandlung des Regionaldekans zum Regionalvikar. Der Regionaldekan wurde gewählt, der Regionalvikar wird vom Bischof ernannt. Priester, Diakone und Pastoralreferenten haben in einem offenen Brief Kritik geübt, haben von einem völlig intransparenten Verfahren und a-synodalen Verhalten gesprochen. Können Sie das nachvollziehen?

Hurtz Wir leben in einer sich wandelnden Gesellschaft und Kirche ist Teil davon. Sich diesem Wandel zu widersetzen wäre Don-Quichottentum. Man kann Veränderungen auf vielen Wegen erreichen. Jede Institution und jeder Mensch hat seinen eigenen Stil. In Dr. Helmut Dieser haben wir einen Bischof, der es anders macht als seine Vorgänger. Ich bemühe mich um ein weites Herz und finde, dass jeder seinen eigenen Stil pflegen soll. Ein Nachfolger wird es wieder anders machen. Ich habe vier Bischöfe erlebt, die alle interessante Persönlichkeiten und individuell verschieden waren, dies empfinde ich sowohl für ein Bistum als auch für mich spannend und bereichernd.

Bischof Dieser hat den Prozess „Heute bei Dir“ angestoßen. Es gibt Themenforen, die katholische Kirche will von den Menschen wissen, wie sich Kirche verändern muss. Wie erklären Sie den Gläubigen diesen Prozess?

Hurtz Das Schlüsselwort ist Kommunikation. Es geht darum, sich am Dialog zu beteiligen. Wir haben es in unserer Gemeinde versucht: An mehreren Samstagen hat der Pfarrgemeinderat das Kirchenportal von St. Marien weit geöffnet und stand zum Gespräch bereit.

Was wurde zum Thema?

Hurtz Natürlich gab es die ganze Bandbreite der Themen, in denen Menschen in ihren jeweiligen Situationen Kirche begegnen wie Kindergarten und Messfeiern. Aber auch Wünsche wurden geäußert, zum Beispiel sollte die Ökumene verstärkt werden. Aber auch allzu starre Regeln der Vergangenheit wurden in Frage gestellt.

Sie haben drei Gemeinden, sind jetzt auch Regionalvikar. Fühlen Sie sich manchmal auch überfordert?

Hurtz Ja, natürlich. Insbesondere im Hinblick auf meinen Lebensabschnitt. Ich bin Jahrgang 1955. Am Horizont taucht die Zeit des Ruhestands auf, und mich beschäftigt auch die Frage nach der Gestaltung dieser Zeit. Mein Vater war in meinem Alter bereits ein glücklicher Rentner. Deshalb ist mir die Beschränkung der Amtszeit als Regionalvikar auch wichtig. Ich möchte in der kommenden Lebensphase noch einmal neu die Segel setzen können.

Haben Sie noch genug Zeit, um Seelsorger für die Menschen in Ihrer Gemeinde sein zu können?

Hurtz Doch, selbstverständlich. Das ist mir auch sehr wichtig. Ich bin weniger ein Mensch der Gremien und der Verwaltung. Ich liebe Begegnung, getreu dem Buber-Satz, nach dem alles wirkliche Leben Begegnung ist.

Wissen Sie, wie viele Katholiken in Ihrer GdG leben?

Hurtz Natürlich, das ist Statistik – es sind 13.000.

Wie sieht es mit Kirchenaustritten aus?

Hurtz Das liegt im üblichen Rahmen. Stärker macht sich der demografische Wandel bemerkbar. Es gibt doppelt so viele Beerdigungen wie Taufen. Dabei ist die Zahl der Taufen mit 90 pro Jahr hoch.

Im vergangenen Jahr meldeten die katholischen Kirchen in Mönchengladbach deutlich mehr Gottesdienstbesucher. Gibt es einen Trend zu bewussteren Zuwendung zur Kirche?

Hurtz Ich würde es keinen Trend nennen, aber in Zeiten, in denen der Glaube nicht mehr gesellschaftlich abgestützt wird, ist die Entscheidung für Kirche bewusster, und das erleben wir. Das Defizitäre in unserer Gesellschaft wird stärker empfunden, und das kann zu einer Gegenentwicklung führen. Als Kirche vermitteln wir auch ein Wertesystem, ermöglichen ein Miteinander und helfen bei der Entwicklung eines Verantwortungsgefühls für den Nächsten.

Sprechen wir über Gewalt und Vandalismus. Es gab Zerstörungen, vor allem an der Marienkirche.

Hurtz Ja, zum Beispiel wird in den Nischen der Kirche die Notdurft verrichtet. Das macht mich schon manchmal sprachlos. Dagegen hilft aber nur Kommunikation – man muss die Menschen ansprechen, in gefährlichen Situationen aber auch die Polizei rufen. Wir dürfen nicht alles hinnehmen, sonst wird die getane Tat zur Rechtfertigung für schlimmere Taten.

Sie haben eine Zeitlang Prominente in die Kanzel gebeten. Wer ist Ihnen am deutlichsten in Erinnerung geblieben?

Hurtz Das zu sagen ist ganz schwer. Paul Spiegel habe ich schon erwähnt. Johannes Rau hat es geschafft, tiefsten Ernst und befreiendes Lachen zu verbinden. Das ist die hohe Kunst der guten Rede und es war sehr beeindruckend.

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