Mönchengladbach Jubel, der alten Zeiten wegen

Mönchengladbach · Gladbach gegen Bayern war immer ein Spiel der Gegensätze: Netzer gegen Beckenbauer, Wildheit gegen Pragmatismus, Gut gegen Böse. Darum freut Borussias Fans jedes Tor, das der Rekordmeister kassiert.

Hat jemand behauptet, Fußball sei rational? Er möge vortreten und es laut daher sagen. Und dann: setzen, Sechs. Fußball ist Emotion. Und Romantik. Und beides vernebelt die Sinne. Wie sonst ist zu erklären, dass Borussias Fans Tore gegen den FC Bayern München bejubeln, wenn diese von Konkurrenten ihrer verehrten Mannschaft im Abstiegskampf erzielt werden? Ein klar denkender Mensch würde sich schütteln vor Lachen. Sobald er jedoch den Fußball eingeatmet hat, wird er verstehen: eine logische Herangehensweise ist nicht zielführend, um dies zu erklären. Eher eine historische. Denn nur die Geschichte macht nachvollziehbar, was absurd erscheint. Bayern ist Bayern, und darum der Superschurke für Gladbach-Fans, Borussia ist Batman, Bayern der Joker sozusagen.

Das ist die Konsequenz einer Vergangenheit, in der es auch den Bayern wert war, Spiele gegen Gladbach als einen Höhepunkt der Saison zu erachten. Sie sind heute in einer Dimension angekommen, in der Gladbach vielleicht besser klingt als manch anderer, nicht aber emotionale Ausnahmezustände auslöst. Wer zur Crème des europäischen Fußballs zählt, muss nicht der alten Zeit nachtrauern.

Bei den Borussen ist das anders. Wenn Bayern kommt, dann wird das Gewesene lebendig, das allgegenwärtig ist im VIP-Raum des Borussia-Parks, indes nur in schwarz-weißen, grobkörnigen Fotos. Für Borussia ist Bayern wie eine Zeitmaschine, die einlädt zur Reise in jene Tage, als Gladbach die Fohlen-Elf hatte und diese bezaubernden Fußball spielte. In den 1970er Jahren wechselten sich die Borussen und die Bayern ab, wenn es um die Meisterschale ging. Doch es war mehr als sportliche Konkurrenz, und mehr als Arm gegen Reich, als David gegen Goliath. „Gladbach und Bayern stellten zwei völlig unterschiedliche ästhetische Prinzipien dar“, schreibt Helmut Böttiger in seinem Buch über Günter Netzer. Borussia und Bayern stiegen 1965 gemeinsam in die Bundesliga auf. Es waren „zwei Mannschaften, die über eine Gruppe von Ausnahmespielern verfügten, die zusammen blieben, älter und besser wurden, selbstbewusster und erfahrener“, schreibt Franz Beckenbauer in seiner Biografie „Ich – wie es wirklich war“. Er, der Fußballkaiser, und Netzer, der Spiritus rector auf der anderen Seite, personifizierten, was Bayern und Gladbach unterschied. Es ging damals, als sich Deutschland auch politisch wandelte, um eine Weltanschauung: „Man musste sich zwischen Netzer und Beckenbauer entscheiden, zwischen Gladbach und Bayern, beides ging nicht“, heißt es bei Holger Jenrich, der dem „Duell der Giganten“ gar ein eigenes Buch gewidmet hat. „Die Bayern standen für Nüchternheit, für Sachlichkeit, für Funktionalität, Borussia für Radikalität, die Reform, die Utopie.“ Es war immer das Spiel der Gegensätze, Borussia galt als Gegenentwurf zum spröden Erfolgsdenken der Bayern. Ereignis statt nur Ergebnis, das war Fohlen-Fußball. Da Pragmatismus nachhaltiger ist als Ästhetik, ist Bayern heute der Brachenführer des deutschen Fußballs und Borussia ein Mitläufer, der Sorge hat, in der Bundesliga zu bleiben. Bayern entwickelte sich früh zu einem Wirtschaftsunternehmen, bekam 1972 das Olympiastadion, während Borussia in der niedlichen Trutzburg namens Bökelberg verharrte und die Kluft immer größer wurde: 286,8 Millionen setzte der FC Bayern im vergangenen Jahr um, wie er auf seiner jüngsten Mitgliederversammlung kund tat, Borussia 58 Millionen; die Münchener haben Personalkosten (Spieler und Mitarbeiter) von 153 Millionen, Borussia von 27 Millionen.

Borussia ist heute vom FC Bayern etwa so weit entfernt, wie es John McCain vom Sieg bei der US-Präsidentschaftswahl war – sportlich und wirtschaftlich. Dennoch: Borussia gegen Bayern bleibt ein Klassiker des deutschen Fußballs. Und heute haben die Gladbach-Fans jedes Recht, Gegentore des FC Bayern zu bejubeln. Schließlich ist es ein Frage der Ehre. Ganz rational.

(RP)
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