Erweiterter Suizid „Angestaute Wut richtet sich gegen die Kinder“

Düsseldorf · Wenn ein Elternteil seine Kinder und sich selbst tötet, ist das nur schwer begreifbar. Der Essener Psychotherapeut Christian Lüdke befasst sich mit den Hintergründen solcher psychischen Störungen.

 Eine Puppe und eine Kerze liegen vor einem Haus in Solingen. Dort soll eine Mutter ihre fünf Kinder getötet haben.

Eine Puppe und eine Kerze liegen vor einem Haus in Solingen. Dort soll eine Mutter ihre fünf Kinder getötet haben.

Foto: dpa/Roberto Pfeil

Von einem erweiterten Suizid spricht man beispielsweise, wenn Eltern ihre Kinder gewaltsam mit in den Tod nehmen. Bei Frauen geschieht dies oft in einer schwierigen Beziehung oder nach einer Trennung. „Diese Frauen befinden sich in einer psychischen Ausnahmesituation, sie fühlen sich von allen verraten und wollen ihre Kinder vor der bösen Welt beschützen“, sagt Christian Lüdke, Psychotherapeut aus Essen, der sich viel mit Traumatherapie befasst (neues Buch: „Profile des Bösen“, Springer). Eine Frau, die nach der Tötung ihrer Kinder überlebt hatte, rechtfertigte ihre Tat laut Lüdke damit, dass sie Leben gegeben habe und damit auch das Recht besitze, es zu nehmen. Bei Männern liegt der Fall etwas anders. Auch sie fühlen sich in der Regel verletzt, meistens, weil ihre Partnerin sie verlassen hat. „Weil in ihren Augen ihr Leben zerstört wurde, sagen sie nun: Jetzt nehme ich dir dein Leben“, erklärt Lüdke. Es gehe um Rache, um Vergeltung, darum, dem anderen Schmerzen zuzufügen.

In beiden Fällen liegt eine psychische Störung vor, die aus der gescheiterten Beziehung resultiert. Dies könne lange vor sich hin gären, aber auch akut entstehen. Lüdke versucht dies anhand eines Vergleichs zu erklären: Jemand geht in den Wald, um Pilze zu suchen, kehrt aber mit Erdbeeren zurück. Ein derartiges Missverhältnis führe zu einer inneren Verschiebung. Je größer diese ausfalle, desto stärker sei die Reaktion. Die Menschen streben nach einem liebevollen Partner, einer glücklichen Familie, aber plötzlich liegt alles in Scherben. „Dann geraten diese Menschen in einen seelischen Ausnahmezustand“, sagt Lüdke. „Sie wissen genau, was sie tun, handeln aber in einer völlig falschen Überzeugung.“

So eine Entwicklung vorherzusehen, sei wahnsinnig schwer, sagt der Psychotherapeut. Zwar könne sich eine Störung über einen langen Zeitraum entwickeln, aber nur Nahestehende könnten beurteilen, ob sich die betreffende Person verändere. „Zum Beispiel, ob sie sich isoliert, sich selbst oder ihre Kinder vernachlässigt.“ In der Regel sind es Männer, die ihre Kinder töten, sagt Lüdke und zwar laut Forschung etwa dreimal so viele wie Frauen. Die würden es zwar versuchen, aber häufig an der Ausführung scheitern. „Denn es liegt in der Natur der Mutter, ihre Kinder zu schützen“, erklärt Lüdke. Oft habe sich über Jahre eine Wut auf den Partner angestaut und sei dieser auch das eigentliche Ziel der Aggression. Wenn die Hilflosigkeit zu übermächtig werde, richte sich der Zorn aber gegen sich selbst und die Kinder. Lüdke: „Der vorherrschende Gedanke ist dann, dass diese letzte Entscheidung ihnen keiner mehr nimmt.“

Ob es sich in solchen Fällen um erweiterten Suizid handele, sei eine juristische Frage, sagt der Psychotherapeut. Wenn vom Täter oder der Täterin hinterhältig gehandelt und bewusst nacheinander das Leben der Kinder genommen werde, seien seiner Ansicht nach Mordmotive erfüllt. Nach einem gescheiterten Selbstmordversuch in einem solchen Fall liege die Wahrscheinlichkeit, dass erneut versucht werde, sich zu töten, bei 60 Prozent, sagt Lüdke. „Derjenige ist ja wiederum gescheitert und wird die nächste Gelegenheit nutzen.“

Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sprechen Sie mit anderen Menschen darüber. Die Telefonseelsorge ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar, Telefon 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222.

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