New York Vergessener Roman von Walt Whitman entdeckt

New York · Walt Whitman, der von 1819 bis 1892 lebte, ist so etwas wie der Verfasser der alternativen Verfassung der Amerikaner. Sein Gedichtband "Grashalme", der 1855 veröffentlicht wurde, gilt als literarische Urschrift der jungen Demokratie: "Den modernen Menschen sing ich", heißt es zu Beginn des mächtigen Zyklus', an dem Whitman ein Leben lang schrieb.

Man muss das vorausschicken, um begreifen zu können, dass mancher den just gefundenen Text wie eine Flaschenpost begreift. Die Zeitung "Welt" spricht gar von einer Weltsensation, es ist nämlich ein Roman Whitmans aufgetaucht, von dessen Existenz niemand mehr wusste. "Leben und Abenteuer von Jack Eagle" heißt der Text, der zwischen März und April 1852 im New Yorker "Sunday Dispatch" erschien, wie die "Welt" berichtet. Es geht um Entrechtete und Waisenkinder, es wird rasch deutlich, dass da jemand an das Herz des Lesers rühren möchte. Whitman ist nun sicher nicht wegen seiner Prosa in die Literaturgeschichte eingegangen, mit seinem einzigen bekannten Roman "Franklin Evan" hätte er nicht den Rang eines Nationaldichters errungen. So liegt das Sensationelle denn auch nicht in der Qualität des Textes, an dem diejenigen, die ihn bereits gelesen haben, starke Einflüsse von Dickens erkannt haben wollen.

Interessant ist der Fund vielmehr deshalb, weil er sich als Gegenentwurf zur aktuellen Lage Amerikas lesen lässt, ja: als Alternative zur Inaugurationsrede des amtierenden Präsidenten. Whitman schreibt über New York, die Stadt Donald Trumps, aber Whitmans New York ist eine ideale Stadt, die ihren Lebenswert eben daraus bezieht, dass dort Menschen unterschiedlicher Herkunft und verschiedener Konfessionen miteinander leben. Am Ende tun sie sich zusammen, weil alle dasselbe fühlen - Mitleid nämlich mit den Waisenkindern. Was Whitman da beschreibt ist also ein sehnsuchtsort: ein Amerika der Menschlichkeit.

Info Whitmans Text kann man herunterladen: http://ir.uiowa.edu/wwqr/vol34/iss3/

(RP)
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