Brügge/Beaufort Kunst-Wal aus Plastikmüll taucht in Brügge auf

Brügge/Beaufort · Zwei Triennalen locken nach Belgien: In Brügge und an der Küste suchen Künstler und Architekten den Kontakt zum Wasser.

Die Einwohner von Brügge haben sich mit den Touristenströmen arrangiert, mit dem Überangebot an Pralinen-Shops und mit den Schwänen, die sich in der Nähe des Beginenhofs in Truppenstärke niedergelassen haben. Sechs Millionen Besucher jährlich stoßen längst an die Grenzen eines friedlichen Beisammenseins, aber verzichten möchten die 118.000 Einheimischen auf die Invasion auch nicht ganz. Dann lieber die Herausforderung annehmen wie die zum zweiten Mal stattfindende Kunst-Triennale, die das mittelalterliche Kleinod sanft aber entschieden in die Zukunft katapultiert.

Weswegen man neuerdings mitten in der Innenstadt einen Blauwal zu Gesicht bekommt, der sich mit der Nase nach oben aus einem Kanal erhebt. Verantwortlich für das "Wunder" sind die Architekten Jason Klimoski und Lesley Chang vom New Yorker StudioKCA. Sie haben einen Beitrag beigesteuert, der das Zeug zum Selfie-Magneten hat. Denn wo sonst bekommt man ein spektakulär zum Himmel strebendes Mahnmal gegen den Klimawandel zu sehen? Der Wal setzt sich aus Tonnen von Plastikmüll zusammen. Die Macher haben die Flaschen, Schläuche und Eimer an den Küsten Hawaiis eingesammelt. Ihre Botschaft: Der steigende Meeresspiegel bedroht nicht nur paradiesische Inseln fern Europas. Auch für Brügge dürfte die letzte Stunde schlagen, wenn nicht bald etwas geschieht.

Initiiert wurde die Triennale in den 1960ern. Nach einer langen Pause kam es 2015 zur Wiederbelebung. "Liquid City" ("Flüchtige Stadt") ist das Motto der diesjährigen Ausgabe, die bis September läuft. Es geht auf den Begriff "Flüchtige Moderne" von Zygmunt Bauman zurück. Der polnisch-britische Soziologe beschrieb in seinem Buch um die Jahrtausendwende eine postmoderne Gegenwart aus global agierenden Konzernen und supranationalen Entscheidungsträgern, deren Machtstrukturen flüchtig geworden sind.

Brügge wirkt zwar nicht wie eine Stadt in rasender Bewegung. Aber dafür nachts verwunschen und tagsüber metropolenhaft überlaufen. Warum also nicht den Stand der Dinge an einem Ort diskutieren, dessen Uhren rückwärts und gleichzeitig nach vorne laufen? 15 Teilnehmer sind mit in den Stadtkorpus integrierten Auftragswerken vertreten. Ihre mal poetischen, mal erstaunlich praxisbetonten Installationen tragen alle den Stempel des Provisorischen, Beweglichen und scheinbar Unfertigen. Dazu gehört , dass sie häufig die Nähe des Wassers suchen, wo sich ein Kunstwerk leicht wieder abbauen lässt.

Nicht jeder Vorschlag kam zum Zug. Einige scheiterten bereits im Vorfeld an einer Protestwelle aus der direkten Nachbarschaft, die ihren Geschmack nicht getroffen sah. Oder am Einspruch aus Brüssel, das eine irreversible Beschädigung des Unesco-Weltkulturerbes witterte. Zu den Geschmähten gehören immerhin bekannte Künstler wie der Schweizer Thomas Hirschhorn oder der Flame Peter Buggenhout. Mehr Glück hatte das koreanische Architekturbüro OBBA. Es hat über eine Fläche von mehr als 100 Quadratmetern eine schwimmende Insel auf einer der malerischen Grachten errichtet, die nicht zuletzt auch für die Bewohner eine Attraktion darstellt. Man kann es sich bequem machen in den eingebauten Netzen und Hängeschnüren, den Blick in die Weite schweifen lassen und den Kopf frei kriegen.

Denn bei allem Willen zur Entschleunigung ist das eigentliche Ziel der im Wasser verankerten Schule des Nigerianers Nlé Kunlé Adeyemi, Renato Nicolodis unterirdischem Hafen oder der ballonartigen Skulpturen von Tomas Saraceno ein seine Fühler weit werfendes Labor des "flüssigen" Denkens. Dass es bei der Bewältigung unausweichlicher Menschheitsprobleme helfen soll, ist ein hoher Anspruch, den mit Leben zu füllen zwar nicht immer gelingt. Aber der Parcours verliert trotzdem nicht an Reiz, wenn sich eine Stadt, die von ihrer Vergangenheit lebt, in eine Hintergrundkulisse für avantgardistische Zukunftsreflexionen verwandelt.

Etwa bei Peter van Driessche (Atelier 4), der konkrete Gegenvorschläge macht. Sollte sich der Anstieg des Meeresspiegels nicht abwenden lassen, kann man in seinem begehbaren Turm-Modell studieren, wie es sich in einem hochgestapelten Wohnhaus dem Untergang trotzen lässt. Auch das Architekturkollektiv Rotor verzichtet auf kunstästhetischen Mehrwert. Stattdessen sieht man sich mit handfester Analyse konfrontiert, die dem Phänomen Wollhandkrabbe nachspürt. Das vor hundert Jahren aus China eingeschleppte Tier vermehrt sich zu Tausenden in den Brügger Grachten. Wie es so weit kommen konnte, erklärt eine Schau mit dem Titel "Observatorium" - ein Muss für alle Bio-Archäologen, das sich in einem Pop-Up-Restaurant in Zeebrügge im Rahmen der gleichzeitig stattfindenden Beaufort Triennale fortspinnen lässt. Rotorenspannen hier den Bogen hin zu unseren Essgewohnheiten und laden dazu ein, statt Fleisch die lästigen, aber garantiert köstlichen Wollhandkrabben zu verzehren, die in unseren Breitengraden bisher keinen natürlichen Feind haben. Die Menüs stellen übrigens abwechselnde Sterneköche zusammen.

Wenn es darum geht, Kunst in die Landschaft zu setzen, genauer gesagt direkt in die Dünen, kann man an der Küste zwischen Knokke und De Panne eigentlich nicht viel falsch machen. 18 heimische und internationale Künstler sind diesmal an neun Orten mit von der Partie. Ein Qualitätsausreißer kommt ausgerechnet von Ryan Gander, der schon an der Biennale in Venedig teilgenommen hat. Der Brite begnügt sich damit, glänzende Silberobjekte zu einer dekorativ in der Durchgangszone von Koksijde abgestellten Riesenkugel zusammenzuschweißen. Auch das skulpturale Hunde-Quartett des Belgiers Guillaume Bijl, das in Oostende einem zum Denkmal versteinerten Artgenossen die Ehre erweist, vermag nicht mehr als ein Schmunzeln zu entlocken.

Mehr Spitzengefühl für virulente Zeitfragen beweist der französische Kollege Kader Attia mit seiner direkt in den Sand von Middelkerke "gesetzten" Installation "Holy Land". Sie besteht aus vierzig auf der Rückseite geschwärzten Spiegeln. Sind es Grabsteine? Trauernde Frauen in schwarzen Gewändern? Stellt man sich vor sie, spiegelt sich das Meer an den Oberflächen. Oder sind es die Körper derjenigen, die auf der Seite des Paradieses angekommen sind? Natürlich denkt man sogleich an ertrunkene Flüchtlinge und ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben.

Der algerienstämmige Attia möchte seine bildgewaltige Arbeit aber auch als Hommage an die vielen Nordafrikaner verstanden wissen, die im Ersten Weltkrieg an der Seite der französischen und belgischen Kolonialherren gekämpft haben. 30 000 von ihnen haben in Europa ihr Leben gelassen. Für viele ihrer Nachkommen ist der Kontinent trotz der Todesfalle im Wasser immer noch das gelobte Land.

(RP)
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