Hologramm Hatsune Miku Der perfekte Pop-Star

Millionen hören ihre Lieder, Zehntausende feiern sie bei ihren Konzerten, dabei ist die japanische Sängerin Hatsune Miku nicht von dieser Welt. Vom Aufstieg einer Projektion.

Sie ist eine niedliche Erscheinung. Bei ihren Konzerten tritt Hatsune Miku in knapper Schuluniform mit türkis-farbener Krawatte aus dem Nichts, streicht die langen Zöpfe mit dem wallenden Haar über die Schultern, wippt mit der Wespentaille, schwingt die schlanken Beine und singt, dass sie eine Prinzessin ist, ein supersüßes Mädchen mit hohen Ansprüchen. Und dann hebt sie den Kopf und blickt mit ihren gigantischen blauen Sehnsuchtsaugen in die Menge. Auf die Menschen, die sie geschaffen haben.

Ihre Fans singen mit, wippen mit Leuchtstäben zum Mitklatsch-Rhythmus. Sie feiern ihre Miku, das perfekte Geschöpf, das nie aus dem Takt kommt, nie müde wird, nie schwitzt. Sie feiern ein Hologramm, das zur Live-Band Lieder singt, die Fans im Internet gebastelt haben. Miku ist ihr Werk, ihre Projektion — der perfekte Pop-Star.

Gerade hat man sie wieder neu erfunden. Das japanische Unternehmen Crypton Future Media hat die vierte Generation einer Sprachsynthese-Software auf den Markt gebracht, mit der Anwender in der ganzen Welt Miku-Songs erstellen können. Für etwa 120 Euro sind sie dabei. Zur Auswahl steht Mikus Stimme in diversen Stimmungslagen von "süß flüsternd" über "leicht angespannt" bis "dunkel melancholisch". Silbenweise können die Miku-Schöpfer den Gesang ihres Stars auf die selbstgebaute Tonspur legen, unter 500 Musikinstrumenten und diversen Stilrichtungen wählen.

Miku singt HipHop, Balladen, Beethoven, tanzt zu Dubstep oder Polka, wechselt die Genres wie ihre Outfits. Gelungene Songs erreichen im Internet Klickraten von mehreren Millionen Nutzern.

Wer so ein Lied erschafft, hat gute Chancen, dass seine Kreation zum nächsten Hatsune-Miku-Konzert in Japan, Korea oder den USA eingeladen und vor Zehntausenden Fans gespielt wird. Das spornt an. Die Miku-Fans sind produktiv. Der Schwarm summt.

Natürlich kann man es befremdlich finden, wenn Menschen in einer realen Konzert-Arena einem Hologramm zujubeln, wenn sie eine Oberfläche mit Kindchen-Schema feiern, die ihren Traummaßen entspricht, aber eigentlich zu perfekt ist, um Gefühle zu wecken. Das Show-Geschäft lebt schließlich auch von Körperlichkeit und Niederlagen, vom Schweiß im Scheinwerferlicht, von der Stimme, die bricht, von Lampenfieber, Erschöpfung, schlechter Tagesform. Andererseits ist auch das alles oft Inszenierung, überhöhte Wirklichkeit. Die Superstars mögen aus Fleisch und Blut sein, Menschen wie du und ich sind sie nicht. Und wer weiß in Zeiten postmoderner Identitätszweifel schon noch, was das genau ist: du und ich.

"Hatsune Miku steht für die Verschmelzung von physischer und virtueller Welt", sagt Medienwissenschaftler Gilles Claude Förstner von der Hochschule der Medien in Stuttgart. "Im Grunde unterscheidet sie sich wenig von einem lebenden Pop-Star, der sich ja auch nicht authentisch verhält, sondern so, wie seine PR-Strategen es ihm raten." Miku sei ihren Fans dafür unglaublich nah, sie entspräche ja genau deren Wünschen und Vorlieben. "Letztlich ist jeder Pop-Star eine Projektionsfläche", so Förstner, "Miku verbirgt das nicht."

So ist ein Hologramm vielleicht die ehrlichste Variante des Superstars: eine sexy Hülle ohne Kern, die totale Anpassung an die Wünsche des Unterhaltungsmarktes. Und so wird die Figur auch für reale Akteure interessant. Autohersteller werben mit ihr. Der New Yorker Mode-Designer Marc Jacobs hat bei Louis Vuitton Kleider für Miku entworfen. Anlass war die Premiere der ersten Miku-Oper im Théâtre du Châtelet in Paris. War der virtuelle Pop-Star zunächst vor allem auf dem asiatischen und amerikanischen Markt erfolgreich und hob stark auf das Schulmädchen-Image der Kunstfigur ab, sollte mit der musikalisch ambitionierteren Miku-Oper des Elektronik-Künstlers Keichiiro Shibuya ein europäisches Publikum angesprochen werden. Auch in Hamburg war die Oper "The End" schon zu sehen - auf Kampnagel. Darin wird Miku von Todessehnsucht erfasst und denkt darüber nach, was Sterben für eine Kunstfigur bedeutet: Nicht mehr sein, nicht mehr erinnert werden - der Tod eines Hologramms unterscheidet sich darin wenig vom realen Sterben. Wenn man von Schmerzen absieht.

Miku ist der fast lebendige Beweis dafür, welche Fortschritte die Sprachsynthese und die Erzeugung von künstlichem Gesang in den vergangenen Jahren gemacht haben. 2003 stellte der Musikinstrumente- und Elektronik-Konzern Yamaha den ersten Vocaloid vor, einen Software-Synthesizer, der auf der Grundlage von Aufnahmen echter Sänger künstlichen Gesang erzeugt. 2007 brachte Crypton Future Media mit dieser Technik Hatsune Miku in die Öffentlichkeit. Sie war nicht die erste künstliche Sängerin, aber eine, die auch jenseits der Anime-Szene viele Fans fand.

Anfangs sang sie nur Japanisch. Die Sprache eignet sich besonders gut zur Simulation, weil sie sich in Konsonant-Vokal-Happen zerlegen lässt. Seit 2013 gibt es Miku auch auf Englisch. Die Software-Entwickler arbeiten immer weiter an der Nachahmung von Sprachmelodien und an Effekten wie Tremolo oder Vibrato, die dem Gesang das Roboterhafte nehmen sollen.

"Erster Klang aus der Zukunft" bedeutet der Name Hatsune Miku übersetzt. Vocaloid-Wesen zu Superstars in der realen Welt aufzubauen, mit Biografie, Designer-Garderobe, einem erdachten Leben jenseits der Bühne, ist ein gutes Geschäft, und so weist die Technologie in die Zukunft wie Mikus Name verspricht. Auch lebende Sänger wie Robbie Williams traten schon mit Hologrammen auf und verstorbene Größen wie Michael Jackson wurden so in die Wirklichkeit zurückgeholt. Es gibt also Bereitschaft beim Publikum, sich etwas vormachen zu lassen. Solange es unterhält, Gefühle anspricht, Fantasien beflügelt.

Pop war immer ein Spiel mit der Illusion, dem schönen Schein. Mit Miku bekommt die Illusion eine Stimme.

(dok)
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