Koalitionsverhandlungen Wirtschaftsweise warnen vor "rückwärtsgewandter Politik"

Berlin · Inmitten der Koalitionsverhandlungen haben die führenden deutschen Wirtschaftsforscher eine klare Warnung an die künftige Regierung ausgesandt: Die Reformen der Agenda 2010 dürften nicht rückgängig gemacht werden, warnten die fünf Wirtschaftsweisen in ihrem Jahresgutachten für die Bundesregierung.

 Die Wirtschaftsweise warnen in ihrem Jahresgutachten vor einer rückwärtsgewandten Politik.

Die Wirtschaftsweise warnen in ihrem Jahresgutachten vor einer rückwärtsgewandten Politik.

Foto: dpa, Maurizio Gambarini

Sie wandten sich in ihrer Mehrheit unter anderem gegen einen Mindestlohn - waren sich bei dem Thema aber nicht einig. Der Sachverständigenrat beurteilt die Lage der deutschen Wirtschaft aktuell als gut und erwartet einen "lang anhaltenden Aufwärtstrend", wie der Wirtschaftsweise Christoph Schmidt am Mittwoch sagte. Für das kommende Jahr erwarten die Wirtschaftsforscher ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 1,6 Prozent. In diesem Jahr wird die deutsche Wirtschaft demnach voraussichtlich um 0,4 Prozent wachsen.

Die gute Lage müsse nun zur Konsolidierung genutzt werden, erklärten die Wirtschaftsweisen. Sie warnten vor einer "rückwärtsgewandten Wirtschaftspolitik". Die gute Position Deutschlands im Vergleich zu den Krisenländern des Euroraums "scheint vielfach den Blick auf die großen zukünftigen Herausforderungen verstellt zu haben", kritisieren sie. Zudem dürfe die Bundesrepublik "nicht den Eindruck erwecken, von anderen Ländern schmerzhafte Anpassungsprozesse zu erwarten oder gar zu fordern, aber vor unpopulären Maßnahmen im Inland zurückzuschrecken".

Streit um flächendeckenden Mindestlohn

Die Wirtschaftsweisen warnten davor, die Reformen der Agenda 2010, "die uns erfolgreich gemacht haben, erfolgreich auch durch die Krise geführt haben, zu verwässern oder in Teilbereichen zurückzunehmen". Deshalb griff die Mehrheit des Sachverständigenrates zahlreiche derzeit in den Koalitionsverhandlungen diskutierte Maßnahmen an - etwa die Mütterrente, eine Aufstockung niedriger Renten sowie Ausnahmen von der Rente mit 67. Diese gingen überwiegend zu Lasten der kommenden Generationen, warnte das Gremium.

Innerhalb der Wirtschaftsweisen umstritten war die Frage des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns. Die Mehrheit der Sachverständigenrates sehe nicht den sozialpolitischen Bedarf, einen "so hohen flächendeckenden Mindestlohn" einzuführen, sagte Schmidt. Ein solcher Mindestlohn sei zwar "keine Schwierigkeit für den Arbeitsmarkt insgesamt", aber problematisch "für diejenigen, die Probleme haben, Fuß zu fassen im Arbeitsmarkt" - unter anderem Geringqualifizierte, Langzeit-Arbeitslose und Menschen in den meisten Regionen Ostdeutschlands.

Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger sieht dies anders: Ein Mindestlohn von 8,50 Euro sei "vertretbar", sagte er. Zahlreiche Studien zu Lohnuntergrenzen zeigten, dass diese keine Nachteile für die Arbeitnehmer gebracht hätten. Es gehe hingegen darum, dass Deutschland aufschließe zu dem, "was in allen zivilisierten Staaten Standard ist".

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte am Mittwoch in Berlin, das Gutachten komme angesichts der Koalitionsverhandlungen "zu einem richtigen Zeitpunkt". Es könne als Grundlage dienen bei der Frage, wie künftig "eine gute Arbeitsmarktpolitik" gemacht sowie "weiter Arbeitsplätze" geschaffen und das Wachstum gestärkt werden könnten. Die Warnungen der Wirtschaftsweisen nehme sie ernst.

Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) erklärte, die Wirtschaftsweisen hätten "die richtigen Signale zur richtigen Zeit" gesandt. "Wir brauchen Reformwillen auf Seiten der Politik und nicht teure sozialpolitische Wohltaten", sagte DIHK-Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben.

(AFP)
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