"Oder stimmt es etwa nicht?" Jeremies steht zu seiner Kritik

Porto/Köln (dpa). Jens Jeremies steht felsenfest zu seiner harten Kritik am Zustand der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Der 26- Jährige hat das Interview mit der Fachzeitung "kicker", das hohe Wellen schlug, keineswegs leichtfertig ohne Rücksichtnahme auf die Wirkung gegeben. Von DFB-Teamchef Erich Ribbeck erhielt der Libero des FC Bayern München zwar einen scharfen Rüffel, doch zugleich beharrte der Ex-Dresdner auf seinem Standpunkt, dass sich die deutsche Nationalelf zehn Wochen vor dem EM-Beginn in einer ärmlichen Verfassung befindet. "Das stimmt doch alles, oder?", fragte Jeremies DFB-Pressechef Wolfgang Niersbach bei einem Telefonat, das er von Porto aus führte.

Das Interview war von Jeremies nicht, wie vom Deutschen Fußball- Bund (DFB) zunächst erhofft, "aus Versehen" geführt worden war. Vielmehr sprach der Defensivspieler gezielt Klartext, weil er sich für die bescheidene Situation der DFB-Auswahl mitverantwortlich sieht. "Ich habe mich doch auch selbst in die Pfanne gehauen", meinte Jeremies. Ribbeck war dennoch sehr verärgert. "Es wird sicherlich ein Gespräch geben. Aber ich möchte das Thema nicht mehr aufkochen. Ich habe präzise gesagt, was ich von dem Vorfall halte", erklärte der DFB-Teamchef am Dienstag nach der Rückkehr aus einem Kurzurlaub ins heimatliche Köln.

Nicht der "Tatbestand" der Kritik, sondern der öffentliche Vortrag der Misere befremdete Ribbeck. Denn Jeremies hält sich normalerweise an die Vorgaben der Trainer und lässt nur sehr selten kritische Bemerkungen fallen. Jeremies hat am liebsten seine Ruhe, meidet Mikrofone und schottet sein Privatleben völlig von der Öffentlichkeit ab. Bisher fiel der Sachse mehr durch seine Leistungen auf dem Platz oder seine unkonventionelle Frisur als durch große Worte auf. Selbst Ottmar Hitzfeld war sehr erstaunt darüber, dass der 26-Jährige auf einmal auch verbal so vorpreschte. "Ich bin total überrascht von der Situation, weil Jens Jeremies ein Profi ist, der Vorbildfunktion hat", sagte der Bayern-Trainer, als er vor dem Champions-League-Spiel beim FC Porto vom Aufsehen erregenden Interview erfuhr.

Am Montagabend in Porto war Jeremies, nach den zwischenzeitlichen Telefonaten mit Niersbach und Ribbeck, wieder ganz der alte. "Ich sage nichts", meinte er. Denn eigentlich ist der Mann, den viele in München für den Nachfolger von Lothar Matthäus halten, ganz anders als der redselige US-Auswanderer. "Lothar ist extrovertiert, ich will mein Privatleben für mich und nicht für die Öffentlichkeit haben. Deswegen heißt es Privatleben", hatte er zuvor erklärt. Er wolle nicht "jeden Tag irgendwelchen Sums erzählen".

Umso mehr wiegt Jeremies' Systemkritik am Nationalteam. Der Senkrechtstarter, der seine Fußballer-Laufbahn bei Motor Görlitz begonnen hatte, nach neun Jahren bei Dynamo Dresden zum TSV 1860 München kam und dort 1997 am 15. November gegen Südafrika den Sprung in die Nationalelf schaffte, wollte bewusst in die Offensive gehen. Den cleveren, gradlinigen Typ, der mit großem Ehrgeiz ausgestattet ist, nervt es sehr, wenn er keine Fortschritte, sondern viele Misserfolge sieht. "Ich beschimpfe alles und jeden", hat er im "Bayern-Jahrbuch" angegeben in der Kategorie: "Wie ich mit Niederlagen oder einem Tief fertig werde."

Auch auf dem Platz geht manchmal das Temperament mit Jeremies durch, wenn er sich ärgert. So hatte der Profi im Oktober in der Champions-League-Partie beim PSV Eindhoven in der Nachspielzeit den am Boden liegenden PSV-Spieler Arnold Bruggink getreten und sich einen Platzverweis, 10 000 Mark Geldstrafe und eine Sperre von fünf Europacup-Spielen eingehandelt.

Dennoch hat er sich durch seine vielseitige Verwendbarkeit auf dem Platz beim Rekord-Meister und auch in der Nationalelf unverzichtbar gemacht. Seit ihm Hitzfeld im vergangenen Dezember in einem Einzelgespräch versichert hat, wie sehr er auf ihn baut, hat sich Jeremies für ein weiteres Jahr in München entschieden und seinen Vertrag vorzeitig bis 2003 verlängert. Seit seinem Wechsel zum FC Bayern 1998 hat er als Fußballer kontinuierlich weiter an Profil gewonnen. Mit seiner aktuellen Kritik hat bei den Nationalspielern zusätzlich an Ansehen gewonnen. Oliver Bierhoff und Dietmar Hamann sprachen sich bei einem Termin am Montag in Berlin gegen eine Jeremies-Bestrafung durch Ribbeck aus.

(RPO Archiv)
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