Schwerpunkt Sozialpolitik Wo beginnt Armut?

Jeder Fünfte in Deutschland gilt als arm oder von sozialer Ausgrenzung betroffen. Diese Zahlen meldete gestern das Statistische Bundesamt.

Berlin Miete und Rechnungen können nicht bezahlt werden, die Wohnung bleibt ungeheizt, noch nicht einmal jeden zweiten Tag kommt eine vollwertige Mahlzeit auf den Tisch, kein Urlaub, kein Auto, kein Telefon, keine Waschmaschine. Wer sich von insgesamt neun Wohlstandskriterien mindestens vier nicht leisten kann, zählt demnach zu den Armen in der Gesellschaft mit "erheblicher materieller Entbehrung". Das trifft nach einer aktuellen Umfrage des Statistischen Bundesamtes auf 5,3 Prozent der Bürger zu.

Die Zahl der Menschen, die generell von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen sind, ist deutlich höher. Sie beträgt 19,9 Prozent — also jeder Fünfte. Wobei die Statistiker auf diese große Zahl gekommen sind, indem sie auch jene Personen einbezogen haben, die wegen ihrer aktuellen Einkommenssituation als "armutsgefährdet" gelten.

Der Sozialpolitik-Experte der FDP im Bundestag, Heinrich Kolb, kritisierte, dass grundsätzlich alle Empfänger von Sozialleistungen in die Statistik aufgenommen würden, ebenso jene, die sich selbst materiell ausgegrenzt sehen. "Wenn ich das richtig sehe, geht es um gefühlte Armut. Das halte ich für schwierig", sagte Kolb unserer Zeitung. Er halte es für "nicht glücklich", dass "immer alles schlecht geredet" werde. "Wir haben objektiv noch eine gute Situation."

Eine Studie der Gesellschaft für Konsumforschung, die ebenfalls gestern veröffentlicht wurde, gibt dem Liberalen Recht: Rund vier Fünftel der Deutschen kommen demnach finanziell gut bis sehr gut zurecht. Während sich drei Prozent der Bevölkerung in keiner Weise einschränken müssen, fühlen sich 33 Prozent gut versorgt und können sich einiges leisten. Im Großen und Ganzen kommen weitere 45 Prozent der Verbraucher mit ihren finanziellen Mitteln gut zurecht.

Die Studie spiegelt allerdings auch das untere Fünftel wider, das vom Statistischen Bundesamt als arm oder sozial ausgegrenzt eingestuft wird. Demnach kommen 15 Prozent so gerade eben über die Runden, und bei vier Prozent der Bürger reicht das Geld nach eigenen Angaben vorne und hinten nicht.

"Es ist völlig unbestritten, dass es in Deutschland Armut gibt", sagte die Vorsitzende des Sozialverbandes VdK, Ulrike Mascher. Die Veröffentlichung des Statistischen Bundesamtes bezeichnete sie als "alarmierend". Sie verwies darauf, dass die persönliche Wahrnehmung, arm zu sein, auch eine Frage des Umfelds sei. Eine alleinerziehende Mutter aus München habe ihr zu denken gegeben. In einer so wohlhabenden Stadt wie München sei es besonders "bitter" am Existenzminimum zu leben. Immer wieder müsse diese Mutter ihrem Kind sagen, was sie sich alles nicht leisten könnten, während die Kinder drum herum alle Möglichkeiten hätten.

Doch selbst die Sozialverbände sehen die statistische Methode, subjektive Angaben zur Beschreibung der Armut heranzuziehen, kritisch: "Es sind Armutssignale, aber der Indikator sagt wenig aus", sagte der Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider.

Das "eigentliche Problem" sind nach Einschätzung Schneiders jene 16 Prozent, die von Armut bedroht sind, weil sie ohne staatliche Hilfe unter dem Hartz-IV-Regelsatz liegen würden. Die Ursache sieht Schneider vor allem im Niedriglohnsektor. Mit Niedriglöhnen würden Menschen aus der Arbeitslosigkeit, aber nicht aus der Armut geholt. Im Rentenalter setze sich dies später fort, weil zuvor eben nicht genug verdient worden sei. Die Sozialverbände kritisierten zudem übereinstimmend, der Hartz-IV-Regelsatz sei zu niedrig.

(qua)
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