Ankara Türkei wählt – Erdogan siegessicher

Ankara · 50 Millionen Türken gehen am Sonntag zur Urne. Die religiös-konservative Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Erdogan liegt in den Umfragen mit 45 bis 50 Prozent weit vor allen anderen Parteien. Dennoch steht das Land vor einem Umbruch – der Neugestaltung der Demokratie.

Auf den ersten Blick sieht die Parlamentswahl eher nach Kontinuität als nach Neuanfang aus: Die Regierungspartei AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan dürfte auch in den kommenden vier Jahren das Kabinett stellen. Und doch ist die Wahl eine Zäsur. Die erste Phase der "stillen Revolution", in der sich die Türkei von vielen undemokratischen Traditionen und Gesetzen löste, ist vorbei, eine neue Phase beginnt. Und die wird mindestens genauso schwierig wie die bisherige.

Die Jahre der AKP-Regierung seit Ende 2002 haben die Türkei stärker verändert als alle Phasen seit den frühen 1980er Jahren. Das Land durchlebte einen schwierigen, aber am Ende gewaltlosen gesellschaftlichen Umbruch und einen Eliten-Wechsel, der das Schlagwort von der "stillen Revolution" begründete. Unter Erdogan ist eine neue, religiös-konservative und anatolisch geprägte Gesellschaftsschicht erstarkt, die den traditionellen urban-säkularistischen Führungskadern der Republik den Rang abgelaufen hat.

Erdogans AKP ist die politische Vertretung der frommen Anatolier. Und wie sie verband die Regierungspartei besonders zu Beginn ihrer Zeit an der Macht eine konservative Grundausrichtung mit einem fast schwäbisch anmutenden Fleiß. Ankara verabschiedete ein Reformpaket nach dem anderen und wurde 2005 mit dem Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen belohnt. Viele Intellektuelle und andere Mitglieder des nicht-religiösen Reformlagers unterstützten Erdogan nach Kräften. Gleichzeitig stieg das Land wirtschaftlich auf. Heute ist die Türkei Mitglied der G-20 und hat die sechstgrößte Volkswirtschaft in Europa.

Zwei Ereignisse markierten den innenpolitischen Umbruch: Im Frühjahr 2007 drohten die früher allmächtigen Militärs als Anführer der Säkularisten mit einem Putsch gegen Erdogan – und wurden wenig später von den Wählern abgestraft, die der AKP mit fast 47 Prozent das Vertrauen gaben. Seitdem geht es für die Generäle politisch steil bergab. Die zivile Staatsanwaltschaft untersucht mutmaßliche Putschpläne von Offizieren und hat fast 200 Militärangehörige in Untersuchungshaft stecken lassen.

Das zweite entscheidende Ereignis war das Verfassungsreferendum im vergangenen Jahr. Fast 60 Prozent der Türken stimmten für die Veränderungen, die unter anderem die Vormachtstellung der Säkularisten in der Justiz beendeten. Wie sehr sich das gesellschaftliche Klima gewandelt hatte, zeigte sich im Herbst: Das jahrelang heftig umstrittene Kopftuchverbot an türkischen Universitäten wurde fast lautlos aufgehoben.

Diese politischen Erfolge, die schnell wachsende Wirtschaft und Erdogans Popularität weit über Parteigrenzen hinaus bilden das Fundament für den am Sonntag erwarteten Wahlsieg. Gleichzeitig werden aber auch die Schattenseiten der AKP-Regierungszeit deutlicher. Ermüdungserscheinungen, Vetternwirtschaft und Überheblichkeit machen sich bemerkbar.

Der Reformeifer der türkischen Regierung ist erlahmt, auch wegen der ständigen Zurückweisungen durch EU-Staaten wie Frankreich. In der Außenpolitik schaute sich Ankara deshalb woanders um und entwickelte in den vergangenen Jahren ein Selbstbewusstsein als Regionalmacht, das in Europa und den USA als Abwendung vom Westen interpretiert wurde.

Zu Hause lässt der lange für seinen Pragmatismus bekannte Erdogan seinen autoritären Tendenzen immer stärkeren Lauf. Aus Rücksicht auf nationalistische Wähler stoppte er einen ehrgeizigen Reformplan zur Lösung des Kurdenproblems. Mitunter wird der Regierungschef im In- und Ausland allerdings auch für Missstände an den Pranger gestellt wird, für die er nicht verantwortlich ist. So wird Erdogan zwar völlig zurecht wegen seiner Dünnhäutigkeit gegenüber den Medien kritisiert. Aber hinter der oft zitierten Prozesswelle gegen Tausende Journalisten in der Türkei steckt nicht die Regierung, sondern eine militärtreue Staatsanwaltschaft, die immer neue Berichte über die Putschpläne der Armee gegen Erdogan unterbinden will.

Die meisten Türken sehen keine Alternativen zu Erdogan und zur AKP. Die säkularistische Oppositionspartei CHP gibt sich zwar reformfreudiger als früher, hat aber ein Glaubwürdigkeitsproblem: So klagte die CHP vor dem Verfassungsgericht gegen politische Reformen zugunsten der Christen in der Türkei. Erdogan strebt eine Zweidrittelmehrheit für die AKP im neuen Parlament an, um die Verfassungsdebatte prägen zu können. Seine Gegner fürchten einen Durchmarsch der Regierungspartei ohne Beteiligung anderer Parteien oder gesellschaftlicher Gruppen.

Nun werden die Karten am Sonntag neu gemischt. In den kommenden Jahren wird es nicht mehr um die ständige Gefahr eines Militärputsches gehen oder um die Kopftuchfrage. Es geht um eine neue Verfassung und um die Absicherung und Weiterentwicklung der demokratischen Errungenschaften des letzten Jahrzehnts – eine Neugestaltung der Demokratie.

(RP)
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