Interview mit SPD-Chef Sigmar Gabriel "Es wird keinen Marsch in den "Schuldenstaat" geben"

Berlin · Der SPD-Chef Sigmar Gabriel spricht mit unserer Redaktion über die Euro-Schuldenkrise, die Zukunft der SPD, die Chancen bei den anstehenden Landtagswahlen und die Energiewende in Deutschland.

Sigmar Gabriels langer Weg an die Spitze
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Herr Gabriel, Sie sind Vater geworden. Wie bekommen Ihnen die kürzeren Nächte?

Gabriel Na ja, die Nächte sind schon sehr kurz geworden. Aber natürlich sind wir wie alle Eltern überglücklich.

Sie wurden persönlich von einigen Briefschreibern — darunter auch SPD-Mitgliedern — gedrängt, Elternzeit zu nehmen. Was tun Sie?

Gabriel Ich werde im Sommer drei "Vätermonate" machen, damit meine Frau in ihren Beruf zurückkehren kann. Die ist nämlich selbständige Zahnärztin und kann ihre Praxis nicht einfach für längere Zeit vernachlässigen.

Ein besonders kinderfreundliches Land ist Frankreich, wo am Sonntag gewählt wird. Wird ein sozialistischer Wahlsieger Hollande auch die Träume der Sozialdemokraten in Deutschland beflügeln?

Gabriel Wir sollten uns davor hüten, jede Wahl — vom kleinsten Dorf bis zu unserem Nachbarland — immer mit Blick auf die nächste Bundestagswahl zu sehen.

Das tun auch Politiker gern.

Gabriel Das stimmt, macht es aber nicht besser. Die Wahl in Frankreich ist zunächst einmal von großer Bedeutung für das zweitgrößte Land in der Europäischen Union.. Und es ist natürlich eine enorm wichtige Wahl für Europa. Die Stimmung in Frankreich zeigt, dass es eine Alternative zur Politik von Kanzlerin Merkel und dem bisherigen französischen Präsident Sarkozy gibt.

Wir haben den Eindruck, dass Schuldenmachen dann wieder hoffähig wird?

Gabriel Dann sind Sie wohl der Propaganda von Herrn Sarkozy und Frau Merkel aufgesessen. Es wird keinen Marsch in den "Schuldenstaat" geben. Weder mit Francois Hollande noch mit der SPD. Aber wir wollen dafür sorgen, dass die Wirtschaft wieder in Gang kommt. Inzwischen kritisieren doch selbst konservative Wirtschaftswissenschaftler oder der Präsident der EZB das reine Spardiktat von Frau Merkel. Anders als die sparsame schwäbische Hausfrau von Frau Merkel, die ja noch immer einen Mann hat, der bei Daimler regelmäßig sein Geld bekommt, brechen die Volkswirtschaften zusammen, wenn nur gespart und nirgends investiert wird. Im Ergebnis sind die Schulden höher statt niedriger. Das erleben wir doch gerade in ganz Europa. Deshalb muss die Sparpolitik in Europa um eine starke Wachstumskomponente ergänzt werden.

Wie geht das ohne neue Schulden?

Gabriel Mehr als 13 Milliarden Euro Investitionsmittel liegen allein für Griechenland ungenutzt in Brüssel, weil die Griechen kein Geld für ihren Eigenanteil haben. Anderen Ländern geht es ähnlich. Zuerst müssen wir mal das Geld nutzen, das da ist, statt die Jugendarbeitslosigkeit auf fast 50 Prozent explodieren zu lassen, wie es Merkel und Sarkozy getan haben. Neue Schulden machen für Wachstum ist weder nötig noch nachhaltig.

Jede Investition in mehr Wachstum kostet Geld. Noch einmal: Woher wollen Sie das nehmen?

Gabriel Ein weiteres Instrument ist die Besteuerung der Finanzmärkte. Nach den Plänen der EU-Kommission würde das jährlich über 50 Milliarden Euro bringen. Es kann doch nicht sein, dass wir ständig die Mittelständler und Arbeitnehmer zur Kasse bitten, und diejenigen, die Schuld an einem Großteil der Staatsschulden sind, müssen bis heute keinen Cent zum Schuldenabbau beitragen. Aber selbst ohne diese Steuer gäbe es genügend Alternativen.

Nennen Sie mal welche.

Gabriel Eine — die nicht abgerufenen Strukturfondsmittel — habe ich ja bereits genannt. Eine zweite betrifft die Ausgaben der EU. Es ist doch auf Dauer nicht sinnvoll, mehr als 40 Prozent des EU-Haushaltes für Agrarsubventionen auszugeben. Europa lebt am Ende von Forschung, Entwicklung, guter Bildung und wettbewerbsfähigen Industrien. Und schließlich können und müssen wir die europäische Investitionsbank besser ausstatten.

Aus einem Europa, das den Staatsanteil hochschraubt und neue Steuern erhebt, dürften viele Unternehmen fliehen.

Gabriel Ich kann denen, die solche Schlagworte wie "Steuerstaat" und "Schuldenstaat" im Munde führen nur sagen: Schaut Euch an, wie Deutschland durch die Krise gekommen ist. Deutschland ist das beste Beispiel in Europa, dass die Verringerung von Schulden nur über Wachstum und Beschäftigung geht. Wir haben in der Krise gerade nicht gespart, sondern investiert. Das mussten wir als Sozialdemokraten gegen den erbitterten Widerstand der FDP und großer Teile der CDU durchsetzen. Heute sehen wir den Erfolg und könnten im Aufschwung Schulden abbauen.

Im Vergleich zu den Vorschlägen des möglichen neuen französischen Präsidenten Hollande mutet das SPD-Programm geradezu neoliberal an. Hollande möchte das Rentenalter senken, neue Staatsbedienstete einstellen, den Spitzensteuersatz auf 75 Prozent anheben. Gibt es bald einen Wettlauf, wer ist der Linkeste in Europa?

Gabriel Ganz sicher nicht. Die SPD will den Spitzensteuersatz moderat anheben — bei weitem nicht auf das Niveau der Kohl-Zeit. Außerdem sollen die 75 Prozent von Hollande in Frankreich nur für einen Single ab dem ersten Euro oberhalb eines Jahreseinkommens von einer Million Euro Euro gelten. Und was die Renten betrifft, muss man sagen, dass Frankreich viel mehr Kinder als Deutschland hat. Die Wahl von Francois Hollande hat nicht wegen seiner Innenpolitik eine Signalwirkung, sondern wegen seiner Europapolitik. Endlich haben wir eine Alternative zum Merkelschen Teufelskreis: Schulden — Spardiktat — noch mehr Schulden.

Sie reden immer vom Wachstum. Tatsache ist, dass die Transferleistungen in diese Länder zunehmen. Wie sollen die denn finanziert werden?

Gabriel Zur Wahrheit gehört auch, dass wir als Deutsche seit der Einführung des Euro der große Gewinner gewesen sind. Und jetzt geht es um die Frage, auf welchen Weg wir langfristig zu einer ausgeglicheneren Wirtschaft in Europa kommen - ohne, dass Deutschland schwächer wird. Wenn wir das nicht tun, werden wir am Ende verlieren, denn 60 Prozent unseres Export gehen nun mal in die Eurozone. Wir leben nur gut, wenn es denen um uns herum mindestens so gut geht, dass sie sich unsere Produkte kaufen können.

Und wer haftet für die Extra-Schulden?

Gabriel Derzeit haften leider nur die kleinen Leute und die Mittelständler. Deshalb wäre es von so großer Bedeutung, wenn endlich auch die Verursacher der Krise an den Finanzmärkten mit in die Verantwortung kämen. Aber viel wichtiger ist, wofür wir haften wollen. Derzeit haften wir für die Milliarden-Kredite der EZB für Banken. Das sind die geheimen "Merkel-Bonds", über die nie jemand reden möchte. Da sind mir Projektbonds für Investitionen in erneuerbare Energien in Südspanien deutlich lieber. Die schaffen nämlich Arbeit und damit auch Steuereinnahmen.

In Deutschland geht es um die Vormacht in den Ländern. Würden Siege der SPD-Spitzenkandidaten bei den Wahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen die Option für eine Machtwechsel in Berlin öffnen?

Gabriel Spitzenkandidat Torsten Albig macht im Norden einen tollen Wahlkampf und hat beste Chancen, Ministerpräsident zu werden. Wenn dann Hannelore Kraft eine eigene rot-grüne Mehrheit in Düsseldorf holt, hat die schwarz-gelbe Koalition es zum elfen Mal in Folge in den Ländern nicht geschafft, ihre Konstellation durchzusetzen. Das wäre in der Tat ein starkes Signal für die Bundestagwahl 2013.

Das heißt aber auch, dass die beiden Blöcke Mitte-links oder Mitte-rechts keine Mehrheit mehr bekommen.

Gabriel Die Chancen für Rot-Grün stehen bei beiden Landtagswahlen sehr gut. Derzeit sind 60 Prozent der Wähler für eine gemäßigt linke Politik. Die Menschen sind mit der derzeitigen Verteilung der Chancen, Einkommen und des Vermögens nicht einverstanden. Sie empfinden die jetzige Lage als ungerecht.

Müsste dann nicht die SPD bei 40 Prozent stehen?

Gabriel Die Linke zersplittert sich in Deutschland gern, weil sie mehr auf die richtige Meinung als auf Lösungskompetenz setzt. Aber jeder Wähler muss am Sonntag in Schleswig-Holstein und am 13. Mai in NRW wissen: wer nicht wählen geht oder mit seiner Stimme spielt, dem kann am Morgen danach eine Regierung mit CDU und FDP drohen. Wer das nicht will, muss SPD oder Grüne wählen.

Ist Kraft ein Vorbild, die in NRW bei Umfragen nach der 40-Prozent-Grenze liegt?

Gabriel Ja, eindeutig. Hannelore Kraft hat die SPD in Nordrhein-Westfalen wieder stark gemacht. Sie hat in zwei Jahren mehr für den Industriestandort NRW, für Bildung und übrigens auch für den Schuldenabbau getan, als ihre Vorgängerregierung in fünf Jahren.

Viele sehen in der großen Koalition die einzig derzeit mögliche Mehrheitsoption.

Gabriel Politik muss Alternativen definieren, sonst kann sie abdanken. Wir streben keine Große Koalition an — weder in den Ländern Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein noch im Bund.

Thema Energiepolitik: Was läuft schief bei der Energiewende?

Gabriel: Was die Regierung da in Berlin macht, ist mehr als fahrlässig. Man kann den Eindruck gewinne, dass der Atomausstieg bewusst gegen die Wand gefahren werden soll. Die Regierung tut nichts, um die Voraussetzungen für den Atomausstieg zu schaffen. Steigende Preise und vor allem die Gefährdung der Versorgungssicherheit sind die Folgen. In normalen Jahren müssen wir zehn Mal eingreifen, damit die Netze stabil bleiben. Im letzten Jahr mussten wir 900 mal eingreifen. Selbst sehr kurze Stromausfälle können in der Industrie zu Millionenschäden führen. Aber das kümmert scheinbar weder Herrn Röttgen noch Frau Merkel.

Wie konnte es so weit kommen?

Gabriel: Die Regierung setzt bei der Energiewende völlig falsche Akzente. Zum Beispiel bei der Solarförderung. Es geht doch längst nicht mehr darum, möglichst viele Solarzellen auf die Dächer zu bringen. Sondern um die Frage: Was machen wir, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht. Heute muss man sagen: Du bekommst dann Geld, wenn Du Deinen Strom kontinuierlich anbietest. Das zwingt den Solarenergielieferanten, sich zu vernetzen. Mit den Stadtwerken, dem Biogaslieferanten, dem Windmüller und einem Energiespeicher.

…aber dafür gibt es doch ebenfalls Förderprogramme…

Gabriel: Bislang fördern wir die Erneuerbaren Energien so, als seien sie noch immer ein Nischenprodukt. Aber sie sollen demnächst einen Großteil des Stroms liefern. Merkel und Röttgen haben noch gar nicht begriffen, was das für eine Herausforderung ist. Es geht nicht nur um den Netzausbau oder die "Integration" der erneuerbaren Energien. Es geht um Transformation, also den Umbau des gesamten Energiesystens. Wenn wir nicht aufpassen, droht uns der Wiedereinstieg in die Atomenergie, weil alle Voraussetzungen für den Ausstieg fehlen.

Na ja, dazwischen lag die Reaktorkatastrophe von Fukushima…

Gabriel… ja, aber Rot-Grün und ein Großteil der Bevölkerung wussten schon vor Fukushima, dass Atomkraft von gestern ist. Im Ergebnis haben wir einen Zickzack-Kurs erlebt, der vor allem die Industrie vor enorme Verunsicherungen stellt. Und die Lage in Deutschland hatte sich ja nach Fukuschima nicht verändert.

Technisch vielleicht nicht, aber doch sicher politisch?

Gabriel: Es war doch schon vor der Katastrophe in Japan klar, dass Atomkraftwerke gefährlich sind. Auch politisch geht doch nicht um die Frage, ob wir 2020 oder 2021 aussteigen. Sondern darum, dass wir vor dem Ausstieg die Versorgungssicherheit für die Zeit danach organisieren. Und zwar zu bezahlbaren Preisen. Auf die absehbare drastische Verteuerung von Industriestrom, die Arbeitsplätze gefährdet, hat die Bundesregierung überhaupt keine Antwort.

Wie lautet Ihre Antwort?

Gabriel: Wir brauchen einen neuen Strommarkt. Gastkraftwerke werden wir nur bekommen, wenn wir die bereitgestellte Leistung finanzieren und nicht mehr nur die gelieferte Kilowattstunde. Die Förderung der erneuerbaren Energien muss ebenfalls an der verfügbaren Leistung orientiert werden und nicht nur an der installierten Leistung. Die Zahl der Kohlekraftwerke muss sich am C02-Preis entscheiden und nicht ideologisch. Und für den C02-Handel müssen wir die energieintensitve und exportorientierte Industrie freistellen, sonst wächst der Druck Produktion ins Ausland zu verlagern. Und wir brauchen ein Industriestrompreisüberwachung, um im Zweifel bei zu hohen Strompreisen auch gegensteuern zu können. Die Energieversorgung ist das Herz-Kreislaufsystem der deutschen Wirtschaft. Verlässlichkeit und Kalkulierbarkeit sind dafür von zentraler Bedeutung. Das erreicht man nicht auf noch sovielen "Gipfeln", sondern das ist harte Arbeit und die Mühe der Ebenen. Aber dafür scheinen sich weder Herr Röttgen noch Herr Rösler zu interessieren.

Martin Kessler und Thomas Reisener führten das Gespräch.

(felt)
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