Deutschland gilt nun als Vorbild Agenda 2010 - Bilanz nach zehn Jahren

Berlin · Im Frühjahr 2003 stimmte Bundeskanzler Gerhard Schröder die Deutschen auf die härtesten Sozialreformen der Nachkriegsgeschichte ein. Damals galt Deutschland in Europa als Sanierungsfall. Heute sind wir Vorbild.

Agenda 2010: Schröder versus Lafontaine
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Agenda 2010: Schröder versus Lafontaine

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Ein zentraler Satz aus der Regierungserklärung zur Agenda 2010 des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder lautet: "Unser Grundsatz wird sein: Wir können nur das verteilen, was wir vorher erwirtschaftet haben." So formuliert das zehn Jahre später im Wahlkampfjahr 2013 kein Sozialdemokrat mehr.

Selbst in den Reihen der schwarz-gelben Regierung würden Schröders drastische Worte vom 14. März 2003 heute wohl nicht mehr so gewählt. Er sagte: "Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen."

Die SPD hat es fast zerrissen

Mit seiner Forderung nach Mut zur Veränderung stimmte der SPD-Kanzler die Nation auf die bis dahin umfassendsten Sozialreformen der deutschen Nachkriegsgeschichte ein. Damals galt Deutschland als der "kranke Mann" Europas. Die Zahl der Arbeitslosen lag an der Vier-Millionen-Marke. Das Bruttoinlandsprodukt war seit drei Jahren nicht mehr gewachsen. Die Alterung der Bevölkerung drohte die Sozialsysteme kollabieren zu lassen.

In den folgenden Monaten brachte die damalige rot-grüne Regierung in einem Kraftakt, der insbesondere die SPD-Fraktion beinahe zerrissen hätte, umfassende Reformen für den Arbeitsmarkt sowie das Gesundheits- und Rentensystem auf den Weg. Herzstück der Agenda-Reform war die Zusammenlegung der Arbeitslosen- und der Sozialhilfe, für die sich der unglückliche Begriff Hartz IV durchsetzte. Dabei gehörte diese Arbeitsmarktreform nur zum vierten und letzten Maßnahmenpaket, das unter der Federführung des VW-Personalvorstands Peter Hartz erarbeitet worden war.

Nur noch 18 Monate Arbeitslosengeld

Mit Hartz IV haderten die Sozialdemokraten am meisten. Die Reform verkürzte nämlich auch die Zahlungsdauer des Arbeitslosengeldes von damals 32 auf höchstens 18 Monate. Danach gab es nur noch Hartz IV — Sozialhilfe. Mittlerweile wird das Arbeitslosengeld I, das 67 Prozent des Nettolohns ersetzt, wieder bis zu 24 Monate gezahlt.

"Der kritischste Punkt an den Reformen war, dass auch langjährige Beschäftigte nach relativ kurzer Zeit auf das Arbeitslosegeld II angewiesen sind", sagt Joachim Poß, damals wie heute SPD-Vize-Fraktionschef. Die Zusammenlegung selbst hält er nach wie vor für richtig: "Diejenigen, die damals in der Sozialhilfe feststeckten, konnten so systematisch in den Arbeitsmarkt gebracht werden." Durch die Hartz-Reformen haben die früheren Sozialhilfe-Empfänger, die erwerbsfähig sind, Anspruch auf Beratung, Arbeitsvermittlung und Weiterbildung.

Mancher fürchtete Weimarer Verhältnisse

Schröders Arbeitsmarktreformen, die rückblickend auch von wirtschaftsliberalen Experten als richtig beurteilt werden, führten kurzfristig allerdings zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit. Im Februar 2005 kletterte die Zahl der Erwerbslosen auf für die Bundesrepublik historische 5,3 Millionen. Mancher fürchtete schon neue Weimarer Verhältnisse.

Im gleichen Frühjahr gingen die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen für die Sozialdemokraten verloren, und die Union errang die Mehrheit im Bundesrat. Infolgedessen entschied sich der Kanzler für vorgezogene Wahlen auf Bundesebene. Die sozialpolitischen Auseinandersetzungen hatten sich dramatisch zugespitzt: Im Jahr 2004 hatten Agenda-Kritiker der SPD und Gewerkschafter die WASG (Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit) gegründet, die 2007 mit der PDS zur Linkspartei verschmolz. Das heißt: Ohne Schröders Agenda wäre diese Partei möglicherweise gar nicht entstanden.

Weitere Reformen sorgten für weiteren Zündstoff

Schröder gelang es nicht, die Gewerkschaften bei seiner Reformpolitik mitzunehmen. Sein "Bündnis für Arbeit", das auch mehr schlecht bezahlte Jobs, Zeitarbeit, Ich-AGs und Mini-Jobs zuließ, wollten die Gewerkschaften nicht eingehen. Tatsächlich erwies sich nicht jede Reform als praktikabel. Unter dem Strich brachten sie den "kranken Mann" Deutschland aber auf die Beine. Im Oktober 2008 sank die Zahl der Arbeitslosen erstmals seit 1992 wieder unter die Marke von drei Millionen.

Für zusätzlichen Zündstoff sorgten in den Agenda-Jahren weitere Reformen in der Gesundheits- und Rentenpolitik. Wegen der hohen Arbeitslosenzahlen waren auch die Sozialkassen unter Druck geraten. So wurden die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung zusammengestrichen, und die Praxisgebühr wurde eingeführt. Rentner müssen seitdem den vollen Beitragssatz zur Pflegeversicherung zahlen und mussten jahrelang ohne oder mit Mini-Rentenerhöhungen auskommen.

"Was negativ war, wurde der SPD zugeschrieben"

Die damals in den Ländern starke Union zwiebelte die Regierung zusätzlich im Vermittlungsausschuss, indem sie auf die für Rot-Grün ohnehin schmerzhaften Reformen noch ein Schippchen drauflegte. In Sachen Image war die Agenda verheerend für die Sozialdemokraten: "Was negativ war, wurde der SPD zugeschrieben. Das hat uns viel Zustimmung gekostet", sagt Poß.

Die aktuell sehr gute Lage am Arbeitsmarkt ist nach Ansicht der Ökonomen nicht allein der Agenda-Politik zuzuschreiben. Das Kölner Institut der Deutschen Wirtschaft weist aber darauf hin, dass im Aufschwung 2006 bis 2008 die Arbeitslosigkeit stärker zurückging als in den Boom-Jahren 1998 bis 2000.

(qua)
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