Analyse Endspiel um die Demokratie in Polen

Warschau/Berlin · Die nationalkonservative Regierung in Warschau steht kurz vor ihrem Ziel, den Staat tiefgreifend umzubauen. Ernüchternd ist, wie wenig sich viele Polen dafür interessieren.

 Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki in Straßburg (Archivfoto).

Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki in Straßburg (Archivfoto).

Foto: AFP/FREDERICK FLORIN

Die „Gazeta Wyborcza“ (GW) hat eine kurze, aber große Geschichte. Polens wohl wichtigste Tageszeitung entstand im Zuge der friedlichen Revolution von 1989. Am Runden Tisch hatten die regierenden Kommunisten den Freiheitskämpfern der Solidarnosc das Recht eingeräumt, vor der ersten demokratischen Wahl am 4. Juni 1989 eine eigene Zeitung herauszugeben. Davon leitet sich der Name „Gazeta Wyborcza“ ab: Wahlzeitung. Vor allem aber leitet die GW daraus ihren Auftrag ab, mehr als „normale“ Medien für Freiheit und Demokratie einzutreten – und notfalls auch in den publizistischen Kampf zu ziehen.

Vor diesem historischen Hintergrund hat es durchaus etwas zu bedeuten, dass die Redaktion des Blattes die parlamentarische Sommerpause in Warschau kürzlich mit einem schrillen Alarm einläutete. Auf der Titelseite kommentierte das Blatt durch seinen stellvertretenden Chefredakteur Jaroslaw Kurski, Polen stehe ein Endspiel um die Zukunft des Landes in Freiheit bevor: „Heute wissen wir, dass der Einsatz bei den Wahlen von 2015 die Demokratie selbst war. Nach drei Jahren PiS-Herrschaft wird eine gewaltige Anstrengung nötig sein, um überhaupt die Voraussetzungen für eine Rückkehr zur demokratischen Ordnung zu schaffen.“

Der politische Kalender in Polen lässt tatsächlich eine Art Final-Konstellation erkennen: Nach drei wahlfreien Jahren werden die Bürger bis in das Frühjahr 2020 hinein nun gleich viermal an die Urnen gerufen. Es beginnt mit landesweiten Kommunalwahlen in diesem Herbst. 2019 folgen die Europawahl und die Parlamentswahl, bei der voraussichtlich im Oktober über die Zusammensetzung von Sejm und Senat entschieden wird. Schließlich wählen die Polen im Frühjahr 2020 direkt ihren Präsidenten – oder zum ersten Mal eine Präsidentin.

Bei so vielen Urnengängen wirkt Kurskis Demokratie-Alarm auf den ersten Blick übertrieben. Allerdings prophezeit der stellvertretende GW-Chefredakteur für 2019 und 2020: „Tritt die demokratische Opposition diesmal getrennt an, werden alle künftigen Wahlen bedeutungslos sein.“ Es werde dann nämlich keine freien Wahlen mehr geben. Die rechtsnationale, erzkonservative PiS (Prawo i Sprawiedliwosc, zu Deutsch: Recht und Gerechtigkeit) und ihr autoritärer Vorsitzender Jaroslaw Kaczynski wollten sich die Macht „über Generationen sichern“. Und Kurski schreckt nicht einmal vor dem Wort „Faschismus“ zurück.

Was ist dran an diesem apokalyptischen Szenario? Wer die Regierungsarbeit der PiS Revue passieren lässt und dabei die Reaktionen der EU, der Venedig-Kommission des Europarats und des UN-Menschenrechtsausschusses berücksichtigt, dem kann sich durchaus der Eindruck eines antidemokratischen Sündenregisters aufdrängen. In der Art eines Staatsstreichs, von dem ehemalige polnische Verfassungsrichter sprachen, legte die PiS schon in den ersten Wochen der Legislaturperiode jene Institutionen lahm oder stellte sie unter Regierungskontrolle, die ihrer parlamentarischen Mehrheit den stärksten Widerstand hätten leisten können: die staatlichen Medien und die Justiz, vor allem das Verfassungsgericht.

Es folgten personelle Säuberungen im Sicherheitsapparat, Verschärfungen des Versammlungsrechts und die offene Weigerung, in der Migrationspolitik europäisches Recht umzusetzen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die EU-Kommission aber bereits reagiert. Sie leitete im Januar 2016, keine drei Monate nach dem Wahltriumph der PiS, ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen ein, an dessen Ende der Entzug aller Stimmrechte nach Artikel 7 des Lissabon-Vertrages stehen könnte.

Dass es dazu kommt, ist zwar unwahrscheinlich, da das rechtsnational regierte Ungarn bereits sein Veto angekündigt hat. Dennoch zeigt der in der EU-Geschichte einzigartige Vorgang, wie ernst Brüssel die Angriffe auf die Demokratie in Polen nimmt.

PiS-Politiker dagegen erzählen eine völlig andere Version der Geschichte. Ausgangspunkt ist stets die friedliche Revolution von 1989, die wegen der „faulen Kompromisse am Runden Tisch“ unvollendet geblieben sei. Parteichef Kaczynski bemüht am liebsten den Begriff der „Reparatur des Staates“, dessen ohnehin labile Institutionen von den linken und liberal-konservativen Regierungen der 90er und der Nullerjahre weiter deformiert worden seien.

Eklatantestes Beispiel für diese Sichtweise sind die Justizreformen der PiS, die behauptet, das polnische Rechtssystem befinde sich bis heute in den Händen illegitimer postkommunistischer Strippenzieher. Daraus leitete die PiS unter anderem das Recht ab, mithilfe neuer Pensionsregeln einen Großteil der Obersten Richter des Landes auszutauschen.

Doch man muss sagen: Viel Widerstand dagegen gibt es in Polen nicht. Das anhaltende Gezerre um die Justizreform hat die Menschen sichtlich ermüdet. Proteste mobilisieren meist nur noch ein paar Grüppchen. In Warschau sind vor dem Präsidentenpalast die üblichen Verdächtigen zu sehen – die Generation 60 plus, Pensionäre, zumeist Akademiker, die als Studenten in den 80ern schon für die Solidarnosc protestiert haben und nun eine immer ruppigere Polizei erleben. Es sind Altersgenossen der 65-jährigen Juristin Malgorzata Gersdorf, die weiter an ihrem Amt als Präsidentin des Obersten Gerichts festhält, das ihr von der Verfassung bis 2020 garantiert wird.

Doch die Frage ist, ob dies die nationalkonservative Regierung noch beeindruckt. Dabei hilft ihr der Rückhalt der Bevölkerung vor allem auf dem Land (in Umfragen liegt die PiS bei 40 Prozent) und die Teilnahmslosigkeit vieler Städter. Ein Besuch im Straßencafé interessiert die Warschauer Mittelschicht weitaus mehr, als abends zwei Stunden vor dem Präsidentenpalast zu demonstrieren. Bis es vielleicht irgendwann zu spät ist.

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