Nutzung von Handy-Daten Leben retten geht vor Datenschutz - ein Gastbeitrag

Düsseldorf · Ist es zulässig, im Kampf gegen Corona die von Handys aufgezeichneten Standortdaten der Bürger zu nutzen? Unser Autor ist Datenschutz-Experte – und hat dazu eine klare Meinung. Ein Gastbeitrag.

 Der Staat guckt genau hin: Szene aus Tokio.

Der Staat guckt genau hin: Szene aus Tokio.

Foto: dpa/Eugene Hoshiko

Der Bundesgesundheitsminister hat recht: „Wie können wir Handydaten nutzen, um Infektionsketten nachzuvollziehen?“ – diese Debatte müsse geführt werden. Und sie wird ja bereits geführt. Der ehemalige Bundesdatenschutzbeauftragte Schaar erklärt: „Ein totales Tracking aller Menschen in diesem Lande würde ich, jedenfalls nach dem derzeitigen Stand, nicht für verhältnismäßig halten,“ und, mehr noch: „Rechtlich hochgradig problematisch, im Zweifel auch nicht zulässig, wäre nach der Verfassungsgerichtsrechtsprechung, jeden Einzelnen jede Sekunde zu tracken. Das darf sicher nicht sein.“

Er steht damit nicht allein. Die Bundesjustizministerin hat entsprechende Vorstöße erstmal abgeblockt. Sie mahnt: „Das ist ein weitreichender Eingriff in die Bürgerrechte“.

Dass solch ein kluger Jurist, von dem ich schon viel gelernt habe, so argumentiert, macht mich ratlos. Denn solcherlei Skepsis kann das Bundesverfassungsgericht nicht für sich in Anspruch nehmen. Das betont nämlich nicht weniger deutlich den überragenden Wert des Lebens als vitale Basis aller Grundrechte.

Das Recht auf Leben löst Schutzpflichten des Staates aus. Wenn nun Taiwan, Korea und Israel vorgemacht haben, dass durch Handytracking infektionsketten nachgewiesen werden können, dann hat diese Maßnahme gezeigt, dass sie wirksam ist.

„Bisher fehlt jeder Nachweis, dass die individuellen Standortdaten der Mobilfunkanbieter einen Beitrag leisten könnten, Kontaktpersonen zu ermitteln“ twittert dessen ungeachtet der aktuelle Bundesdatenschutzbeauftragte. Aber es braucht hier keines Nachweises, sondern es reichen Regeln vernünftigen Vermutens. Ein Medikament darf auch gegeben werden, wenn es nur vielleicht hilft, wenn man nichts Besseres zur Hand hat. Und wenn Standortdaten nicht reichen, dann müssen bessere Daten her. Eben darauf sollte sich die Diskussion richten: Welche Daten können wir nutzen, welche haben wir zur Verfügung, was hilft? Und diese Daten sollten dann auch genutzt werden, so immer es hilfreich ist zur Einschränkung der Pandemie.

Und das muss auch ohne Einwilligung der Betroffenen gelten, die nun der Bundesdatenschutzbeauftragte als Alternative vorschlägt. Es kommt auf die technische Machbarkeit an, nicht auf die Bereitschaft zur Kooperation. Wer auf die Freiwilligkeit einer Tracking-App setzt, der hofft auf ein Verantwortungsbewusstsein, das bei vielen gegeben sein mag – aber sicherlich nicht bei jedem.

Wer dagegen ist, und meint, das sei alles nicht erforderlich, der muss Maßnahmen benennen, die ähnlich schnell realisiert werden können und den gleichen Nutzen versprechen. Nur dann argumentiert er juristisch legitim. Nachverfolgung ist nach den Richtlinien des Robert-Koch-Instituts ein wesentlicher Pfeiler der Seuchenbekämpfung. Neben der Verbesserung der Versorgung und dem Schutz besonders vulnerabler Gruppen ist dies das einzige, was getan werden kann.

Es ist ein Bürgerrecht, nicht überwacht zu werden, aber es ist auch ein Bürgerrecht, vor der Seuche bestmöglich geschützt zu werden. Das kann nicht vor der Einwilligung der Betroffenen abhängen.

Die Datenschutzgrundverordnung erlaubt ausdrücklich die Datenverarbeitung, wo sie erforderlich ist, um lebenswichtige Interessen zu schützen. Was ist lebenswichtiger als das Leben selbst?

Unbestritten: Die Verhältnismäßigkeit ist der Kern des Datenschutzes. Aber wir stehen vor der größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Tausende von Menschenleben sind in Gefahr, der Wohlstand von Jahrzehnten kann in Monaten zunichte gemacht werden. „Wer ein Leben rettet, der rettet die Welt“ heißt es übereinstimmend in Koran und Talmud.

Und auch der, der den Wert des Lebens nicht so absolut setzt, wer es abwägen will gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, der wird im Rahmen der Verhältnismäßigkeit, die die Kritiker so nachdrücklich einfordern, all das berücksichtigen müssen. Der wird das ja endgültige Erlöschen der Existenz vielleicht auch nur weniger, das Bedürfnis nach Sicherheit von sehr viel mehr, und wohl auch die verhaltenssteuernde Wirkung solcher Überwachung bei einigen in die Abwägung mit einbeziehen müssen. Für mich und für viele ist hier das Ergebnis dieser Abwägung klar, gerade weil ich Bürgerrechte ernst nehme.

Datenschutz lebt wie alles Recht von der gesellschaftlichen Akzeptanz. Die darf nicht verloren gehen. Jetzt müssen die gesetzlichen Grundlagen für eine zügige und effektive Bekämpfung der Pandemie geschaffen werden. Und diejenigen, denen der Datenschutz am Herzen liegt, sollten die Gesetzgebung dabei begleiten, Datennutzung zum Wohle aller und insbesondere der Schwächsten möglich zu machen, nicht abzuwehren. Mutiges Handeln ist jetzt erforderlich. Das Datenschutzrecht steht dem nicht entgegen.

Prof. Dr. Gregor Thüsing ist Rechtswissenschaftler an der Universität Bonn und Mitglied des Vorstands der Gesellschaft für Datensicherheit und Datenschutz (GDD).

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort