"Pussy Riot"-Sängerin Nadeschda Tolokonnikowa Ein Brief aus dem Putinschen Gulag

Seit Stalin gilt der Gulag als staatlich betriebenes System zur Ausbeutung und Zerstörung von Menschen. Glaubt man dem Brief der Pussy-Riot-Aktivistin Nadeschda Tolokonnikowa, existiert es auch heute noch. In ihrem Schreiben skizziert sie das Straflager IK-14 und ein Alltag aus Schikane, Erniedrigung und tyrannischer Willkür.

Am Mittwoch wurde Tolokonnikowa in Einzelhaft verlagert. Zu ihrer eigenen Sicherheit, wie es heißt. Die 23-jährige Mutter einer kleinen Tochter ist in den Hungerstreik getreten, um die gegen die Bedingungen in ihrem Arbeitslager im mordwinischen Dorf Parza zu protestieren. Am Mittwoch hieß es vonseiten der Gefängnisverwaltung, sie sitze nun in einer Zelle mit komfortablen Bedingungen ein, sieben Quadratmeter groß, mit Schlafbereich, Kühlschrank und Toilette.

Die Öffentlichkeit hat von ihrem Hungerstreik über einen Brief erfahren, den ihr Ehemann Anfang der Woche veröffentlichte. Irgendwie hat sie ihn wohl aus dem Gefängnis geschmuggelt. Bis März 2014 soll sie dort noch eine zweijährige Haftstrafe wegen "Rowdytums aus religiösem Hass" absitzen. Sie hatte im Februar 2012 mit anderen Mitgliedern der Punkrock-Band in der wichtigsten Moskauer Kathedrale gegen Putin protestiert.

Ihren rebellischen Geist hat sie bis heute nicht verloren. In ihrem Schreiben, das die russische Nachrichten-Website lenta.ru vollständig dokumentiert, begründet sie ausführlich ihren Entschluss. Von "Sklavenarbeit" ist die Rede. Tolokonnikowa droht: "Ich werde das so lange fortsetzen, bis die Regierung beginnt, die Gesetze einzuhalten und aufhört, inhaftierte Frauen wie Vieh zu behandeln."

Ihre Anschuldigungen wiegen schwer. Sie zeichnen ein Bild eines russischen Strafsystems, das vom geschichtlichen Bild des Stalinschen Gulag-Systems kaum zu unterscheiden ist. Zu Sowjetzeiten waren Studien zufolge bis zu 20 Millionen Menschen in den berüchtigten Lagern inhaftiert, unzählige überlebten die Strapazen nicht. Historiker streiten über die genaue Zahl. Den zurückhaltendsten Schätzungen zufolge kam jeder 50. ums Leben. Andere Statistiken gehen von weit mehr Todesopfern aus.

Tolokonnikowas Brief zufolge hat das System aus Entrechtung und Misshandlung bis heute Bestand. Ausführlich beschreibt sie die Zustände im Lager. Welt Online hat eine gekürzte Übersetzung des Schreibens veröffentlicht, die unmenschliche Details auflistet.

Das Lager "Vor einem Transport nach Mordowia wird man wie vor einer Hinrichtung verabschiedet", schreibt die 23-Jährige. Dem Lager habe bei Häftlingen einen berüchtigten Ruf. Schon während ihrer U-Haft habe man ihr von dem Straflager erzählt: "Das härteste Regime, der längste Arbeitstag, die schlimmste Rechtlosigkeit.

Die Kommandanten Tolokonnikowa beschreibt die Leiter des Lagers als Monster. Der Vize-Kommandant, der Oberstleutnanten Kuprijanow, habe ihr zu verstehen gegeben, er sei nach seinen politischen Ansichten Stalinist. Der Leiter des Lagers, ein Oberst Kulagin, habe sie am Tag ihrer Ankunft zu einem Gespräch gebeten und ihr erklärt, das Wichtigste sei, Produktionsnormen zu erfüllen, Arbeitsrecht hin oder her.

Sie zitiert ihn mit einer Drohung: "Wir haben hier auch härtere Menschen gebrochen." Mithäftlinge sollen der Pussy-Riot-Sängerin im Auftrag der Gefängnisleitung Todesdrohungen übermittelt haben, nachdem sie sich über die Lagerbedingungen beschwert hatte.

Die Arbeitsbedingungen Tolokonnikowa beschreibt ein System der Zwangsarbeit. Bis zu 17 Stunden am Tag müssten Insassen Polizeiuniformen nähen. "Deine Hände sind mit Nadelstichen und Kratzern übersät, dein ganzer Arbeitstisch ist von deinem Blut bedeckt, aber du nähst weiter." An Erholung ist demnach kaum zu denken. Höchstens vier Stunden Schlaf am Tag seien ihnen erlaubt.

Katastrophale Hygiene Tolokonnikowa schreibt von unwürdigen sanitären Zuständen. Die Häftlinge fühlten sich wie "rechtloses schmutziges Vieh." Um Häftlinge zu erziehen und zu bestrafen, müssten alle 800 Frauen in ein gemeinsames Waschzimmer gehen, in das nur fünf Menschen gleichzeitig passen.

Nur einmal in der Woche dürfe man sich die Haare waschen. Wegen technischer Mängel hätten sich die Frauen aber schon mehrere Wochen nicht waschen können. "Wenn die Kanalisation verstopft ist, strömt aus Hygienezimmern Urin, Exkremente fliegen haufenweise raus", schreibt sie.

Erniedrigung und Psychoterror In einem Fall seien neue Gefangene gezwungen worden, sich auszuziehen und nackt zu nähen, weil sie zu langsam waren. "Ich forderte, dass man uns wie Menschen und nicht wie Sklaven behandelt", schreibt sie. Beschwerden würden nur belächelt. Unter dem Druck des Lagerregimes würden Mitinsassen zur Kooperation angeworben, die unbequeme Mitinsassinnen verprügeln. Die Atmosphäre ist ihrer Schilderung nach von Misstrauen geprägt. Bei vielen lägen die Nerven blank.

Gezielte Schikane Wer Kritik übt oder gar versucht, sich über seine Anwälte zu wehren, muss schwer dafür büßen. O-Ton: "Die kleinliche und rachsüchtige Administration nutzt daraufhin alle Mechanismen aus, damit der Häftling versteht: Niemandem wird es nach seinen Klagen besser gehen."

Was das bedeutet, hat sie angeblich schon am eigenen Leib erfahren: Nachdem ihr Anwalt sich über die Bedingungen beschwerte, habe Oberstleutnant Kuprijanow daraufhin für unerträgliche Bedingungen gesorgt. "Eine Durchsuchung nach der anderen, Klagen gegen meine Bekannte, warme Sachen wurden beschlagnahmt, man drohte damit, auch warme Schuhe zu beschlagnahmen."

Demütigungen und Provokationen Zudem habe eine Meisterin - Tolokonnikowa nennt sie die rechte Hand von Kuprijanow - Häftlinge offen dazu aufgerufen, die Sachen zu zerschneiden, für die sie in der Werkstatt zuständig war. So sollte sie mit Einzelhaft bestraft werden können. Auch habe die Meisterin Insassinnen dazu aufgerufen, eine Prügelei mit ihr zu provozieren.

Rohe Gewalt Offenbar bietet ihre Prominenz Tolokonnikowa immer noch einen gewissen Schutz. Andere Häftlinge würden geschlagen, wenn sie nicht genug leisten, unter anderem auf die Nieren und ins Gesicht.

Alle Prügelstrafen, exekutiert von anderen Insassinnen, seien von der Lagerleitung genehmigt und in Auftrag gegeben. Tolokonnikowa berichtet von einer "Zigeunerin", die zu Tode geprügelt worden sei. Offizielle Todesursache: Schlaganfall.

Nun sitzt Tolokonnikowa in Einzelhaft in einer Zelle. Sie glaube, die "extreme Maßnahme" sei ihre einzige Chance, heißt es in ihrem Brief.

Unabhängig überprüfen lassen sich die Schilderungen der Pussy-Riot-Sängerin bislang nicht. Der Vorsitzende der Gefängnisaufsicht in Mordowia, Gennadi Morosow, bezeichnete die Vorwürfe in einem Interview mit einem Radiosender aus Moskau als "Unfug". Die Bedingungen in dem Arbeitslager seien "exzellent."

(pst)
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