Viersen Ein Vorlesewettbewerb für Erwachsene

Viersen · Wo Botho Strauß auf Schmalzbrote trifft: Vom Pfarrer über die Bürgermeisterin bis hin zur Galeristin machten acht Vorleser die Fabrik für Genusskultur in Süchteln zum literarischen Salon. Ein unterhaltsamer Abend mit Suchtfaktor

 Entspannt, gebannt, bewegt: Die Zuhörer bekamen 16 verschiedene Texte geboten, von Friedrich Schiller bis David Foster Wallace.

Entspannt, gebannt, bewegt: Die Zuhörer bekamen 16 verschiedene Texte geboten, von Friedrich Schiller bis David Foster Wallace.

Foto: Apostolos Stilos

Man kann dem ollen 18. Jahrhundert ja vieles vorwerfen - die fiese Pocken-Epidemie zum Beispiel oder das völlig überflüssige Erdbeben von Lissabon oder der mörderische Einsatz der Guillotine (Hartgesottene nicken jetzt heftig mit dem Kopf). Aber das 18. Jahrhundert hat auch vier Dinge hervorgebracht, die für ein längeres und erfüllteres Leben sorgen: Die Impfungen wurden erfunden, der Fallschirm, der Blitzableiter. Und: der literarische Salon. Kein Wunder, es war das Jahrhundert von Goethe, Novalis, Kloppstock, Kotzebue. Herrje: Während heutzutage jedes Haus über einen Blitzableiter verfügt, ist der literarische Salon längst kein fester Bestandteil der Wohnkultur mehr, sondern nur noch ein zur Kümmerlichkeit verblasster Mythos.

 Bei der Auszählung der Stimmzettel: Die Zuhörer konnten wählen, welcher Text ihnen am besten gefallen hatte.

Bei der Auszählung der Stimmzettel: Die Zuhörer konnten wählen, welcher Text ihnen am besten gefallen hatte.

Foto: Apostolos Stilos

Zeit, das zu ändern, befand die umtriebige Süchtelnerin Claudia Holthausen bei einem Sonntagsnachmittagskaffeetrinken mit ihren Freundinnen Andrea Waldmin und Britta Pietsch. Das Trio erfand kurzerhand den "Vorlesewettbewerb für Erwachsene", fragte bekannte Viersener wie den Dülkener Pfarrer Jan Nienkerke, "Freigeist"-Erfinder Ralf Weber oder Bürgermeisterin Sabine Anemüller, ob sie aus ihren Lieblingsbüchern öffentlich vorlesen wollten und als Zugabe auch die schrägsten oder schrecklichsten Texte präsentieren würden, die ihnen bislang unter die Augen gekommen waren. Machten ein kleines bisschen stille Werbung in sozialen Netzwerken und wurden dann sehr nervös, ob Publikum kommen würde zu einer Veranstaltung, die das gesprochene Wort in den Mittelpunkt stellt - und wenn ja, wie viel.

 Nach der Lesung: Die Lesebrille hat ausgedient.

Nach der Lesung: Die Lesebrille hat ausgedient.

Foto: Apostolos Stilos

Um es mal in Frikadellen zu sagen: Die waren schon weg, als der offizielle Teil noch lief. Knapp 100 Zuhörer benötigten angesichts der irrwitzigen Reise durch die Jahrhunderte und Gattungen Stärkung bereits in der Pause. Immerhin: ein paar Schmalzbrote waren noch da, als es ans Büffet gehen sollte. Aber zurück zum Anfang:

 Salonnière Claudia Holthausen im Gespräch mit Frank Schliffke, der als Jurist die Auszählung überwachte.

Salonnière Claudia Holthausen im Gespräch mit Frank Schliffke, der als Jurist die Auszählung überwachte.

Foto: Apostolos Stilos

Kerzen erhellten das Innere der Halle an der Düsseldorfer Straße, an der Decke baumelte ein silberfarbener Kronleuchter über dem Industrie-Ambiente, eine feuerrote Tischdecke machte aus einem Holztisch einen Literatur-Altar, von dem aus die acht Vorleser aus ihren Büchern die Magie des gedruckten Wortes den Zuhörern zuteil werden lassen wollten. Im schwarzen Kleid und mit Locken wie Rahel Varnhagen begrüßte Salonnière Claudia Holthausen die Gäste, bevor "Charismata"-Inhaberin Jiota Kallianteris mit Schillers "Pegasus im Joche" den Abend eröffnete. Ausgerechnet Linke-Ratsfrau Britta Pietsch las eine Miniatur aus Botho Strauß' "Paare, Passanten" ("Aber das ist lange vor seinem anschwellenden Bocksgesang erschienen!"), Ludwig Mertens unterhielt mit der Gebrauchsanweisung zum LX4003 (einem elektrischen Heizlüfter) und radebrechte den Beipackzettel einer japanischen Weihnachtslampe ("Mit sensazionell Modell GWK 9091 Sie bekomen nicht teutonische Gemutlichkeit fuer trautes Heim nur, auch Erfolg als moderner Mensch bei anderes Geschleckt nach Weihnachtsganz aufgegessen und laenger, weil Batterie viel Zeit gut").

 Die Vorleser (von links): Bürgermeisterin Sabine Anemüller, Ralf Weber (Freigeist), Ludwig Mertens, Linke-Ratsfrau Britta Pietsch, Galeristin Gerda-Marie Voß (Villa V), Charismata-Inhaberin Jiota Kallianteris, Pfarrer Jan Nienkerke und Internist Hans-Rudolf Milstrey.

Die Vorleser (von links): Bürgermeisterin Sabine Anemüller, Ralf Weber (Freigeist), Ludwig Mertens, Linke-Ratsfrau Britta Pietsch, Galeristin Gerda-Marie Voß (Villa V), Charismata-Inhaberin Jiota Kallianteris, Pfarrer Jan Nienkerke und Internist Hans-Rudolf Milstrey.

Foto: Bettina Münzberg

Sabine Anemüller entführte die Zuhörer in "Sofies Welt", Pfarrer Nienkerke in "Die himmlische Stadt" zu Zeiten Karls des Großen und erfreute die Gäste in seiner skurrilen Leseprobe mit ganz praktischen Problemen der Inquisition ("wer gräbt schon gerne eine halbverweste Witwe aus, die postum zum Scheiterhaufen verurteilt wurde?"). Für Tiefe war ebenso gesorgt (Gerda-Marie Voß las aus der frisch erschienenen Autobiografie der Performance-Künstlerin Marina Abramovic) wie für herrlichen Quatsch aus David Foster Wallaces nicht ganz jugendfreien "Kurze Interviews mit fiesen Männern". Das Publikum konnte sich also auf jedem Niveau amüsieren - und tat es auch ausgiebig.

So, zum Schluss drei Dinge noch. Erstens: Der von Internist Hans-Rudolf Milstrey vorgetragene Text aus Marlen Haushofers "Die Wand" fand beim Publikum den größten Anklang. Zweitens: Der Erlös des Abends wird an die Stiftung Lesen überwiesen. Und drittens: Dieser Abend bedarf einer Fortsetzung.

(mrö)
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