Schulform erlebt einen Boom Lieber Gesamtschule als Turbo-Abitur

Duisburg/Nettetal · Gesamtschulen boomen: Zwei Schüler und eine Mutter haben unserer Redaktion erzählt, was die Schulform für sie attraktiv macht. Alle haben sich bewußt für diese Schulform entschieden.

 Nina Möhring (19) und Sascha Schlak (18) besuchen die Gesamtschule Duisburg-Walsum.

Nina Möhring (19) und Sascha Schlak (18) besuchen die Gesamtschule Duisburg-Walsum.

Foto: Hans-Jürgen Bauer

Vom Gymnasium hat Nina Möhring eine klare Vorstellung. "Das ist eine Lernwerkstatt", sagt sie. Ihre Freundinnen, die dort sind, hätten ihr von hohem Druck erzählt; die Lehrer konzentrierten sich rein auf den Unterrichtsstoff. An der Gesamtschule werde dagegen auch soziales Engagement gefördert, meint Nina Möhring. Sie ist 19 Jahre alt, besucht die 13. Klasse der Gesamtschule in Duisburg-Walsum und sagt: "Hier sieht man mehr das Menschliche."

 Daria Hegholz (53) aus Nettetal ist Mutter zweier Gesamtschüler.

Daria Hegholz (53) aus Nettetal ist Mutter zweier Gesamtschüler.

Foto: Hans-Juergen Bauer

An der Gesamtschule lernen stärkere und schwächere Schüler zusammen. Nina Möhring ist Gesamtschülerin aus Überzeugung — allerdings hatte sie nach der Grundschule auch keine Gymnasialempfehlung, sondern eine für die Realschule. Jetzt steht sie sogar kurz vor dem Abitur. So wie Sascha Schlak — er kam trotz Gymnasialempfehlung zur Gesamtschule Walsum. "Rückblickend war es eine gute Entscheidung", sagt er — seine Noten seien gut geblieben. Der 18-Jährige kennt auch Fälle, in denen das nicht so war: Unter Mitschülern gab es Leistungsstärkere, die in "komische Kreise" gezogen wurden, wie er sagt. Ihre Leistungen seien gesunken.

Duisburg ist mit 13 Gesamtschulen die Hochburg einer Schulform, die in NRW seit mehreren Jahren einen stillen Boom erlebt. Nach einem Jahrzehnt der Stagnation steigt die Zahl wieder: allein zwischen 2010 und 2013 um ein Viertel auf 281. Zum Sommer gibt es weitere 20 Anträge auf neue Gesamtschulen — die 300er-Marke rückt in den Blick. Trotzdem ist die Gesamtschule nach Schülerzahlen weiter nur die drittgrößte der fünf Schulformen der Sekundarstufe I.

Still ist dieser Boom deshalb, weil er, was die Aufmerksamkeit betrifft, im Schatten einer neuen Schulform steht: der Sekundarschule. Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) hat sie ersonnen; Rot-Grün hat sie nach längerem Streit 2011 gemeinsam mit der CDU eingeführt. Hier lernen alle Kinder zunächst gemeinsam wie in der Gesamtschule — anders als dort muss das Unterrichtsangebot danach aber nicht nach Leistung differenziert werden. 84 dieser neuen Schulen gibt es mittlerweile in NRW — eine kleine Revolution.

Der Aufschwung der Gesamtschulen, deren Gründung 2011 erleichtert wurde, gerät da leicht aus dem Blick. "Die Gesamtschule ist die gerechteste Schulform", findet der Gründer und Direktor der Gesamtschule Walsum, Albert Bruckwilder: "Wenn Schüler in einer schwächeren Phase sind, müssen sie nicht gleich die Schule wechseln wie auf dem Gymnasium." Der Anteil an Migranten ist in Duisburg besonders hoch. In Walsum liegt er knapp über 40 Prozent. Genauso hoch ist der Anteil an Migranten unter den Oberstufenschülern. Unter den Gesamtschul-Abiturienten liegt er in NRW insgesamt bei 17, unter allen Abiturienten nur bei sechs Prozent. Bruckwilder schließt daraus: "Gesamtschulen sind nachhaltig besser integrativ." Das bezahlen sie allerdings auch mit einem schlechteren Notenschnitt — 2013 erzielten die Gymnasiasten eine durchschnittliche Abitur-Note von 2,42, die Gesamtschüler nur von 2,72.

Daria Hegholz aus Nettetal meldete im Jahr 2000 ihren Sohn Markus an der Gesamtschule an — weil er keine Gymnasialempfehlung hatte. "Und er hat es ohne eine einzige Nachhilfestunde durch die neun Jahre geschafft", sagt die 53-Jährige. "2009, als er sein Abi in der Tasche hatte, habe ich gedacht: Hast du gut gemacht." Ein Jahr vor dem Abitur des "Großen", der heute Wirtschaftswissenschaft studiert, stand allerdings bei Familie Hegholz wieder die Entscheidung über eine weiterführende Schule an: Markus' Bruder Darius ging auch auf die Gesamtschule — trotz Gymnasialempfehlung. "Das war eine bewusste Entscheidung für die Gesamtschule", sagt Daria Hegholz. Alle Eltern wollten für ihr Kind das Beste. "Und ich messe das eben nicht nur am Notenschnitt."

(RP)
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