Führt das Zentralabitur zu Spitzenzensuren? Im Land der guten Abi-Noten

Düsseldorf · Der Abitur-Schnitt und der Anteil der Bestnoten steigen seit Jahren, nicht nur in NRW. Wer nach Gründen fragt, stößt schnell aufs Zentralabitur. Das wirkt nicht nur auf die Klausuren, sondern auch auf diejenigen, die sie korrigieren.

Führt das Zentralabitur zu Spitzenzensuren?: Im Land der guten Abi-Noten
Foto: dpa, Felix Kästle

Rund 120.000 junge Leute in Nordrhein-Westfalen feiern in diesen Tagen ihre bestandene Abiturprüfung. Etwa jeder Achtzigste darf sich zudem über einen Notenschnitt von 1,0 freuen, den bestmöglichen. 1111 Prüflinge gingen im vergangenen Jahr als "Einsnuller" ab; dieses Jahr dürften es noch deutlich mehr sein — schon wegen des doppelten Abiturjahrgangs: Der letzte Jahrgang des neunjährigen Gymnasiums (G 9) und der erste des achtjährigen (G 8) haben gemeinsam die Schulen verlassen. Es gibt insgesamt mehr Abiturienten, also auch mehr gute.

Aber die Zahl der Bestnoten steigt auch deutlich schneller als die der Abiturienten. Deswegen wächst der Anteil der Bestbenoteten seit Jahren — in NRW zwischen 2007 und 2012 von 0,72 auf 1,35 Prozent. Und erste Rückmeldungen aus den soeben abgeschlossenen Prüfungen lassen darauf schließen, dass sich die Entwicklung 2013 fortsetzt.

Das Thema hat sogar schon die Politik beschäftigt. Vor einigen Monaten wollte die CDU von Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) wissen, ob es eine "Inflation von Spitzenzeugnissen" gebe. Ina Scharrenbach und Stefan Berger, Autoren der Anfrage, fürchteten einen "inflationären Umgang mit dieser Schulnote". Tatsächlich hat sich die Zahl der Bestnoten von 2007 bis 2012 mehr als verdoppelt; die Abitur-Durchschnittsnote verbesserte sich im gleichen Zeitraum von 2,64 auf 2,50.

NRW lediglich im Mittelfeld

Ertrinkt also Nordrhein-Westfalen dank lascher Lehrer demnächst in einer Flut aus Spitzenabiturienten? Die Ministerin mahnte in der Antwort auf die CDU-Anfrage zur Vorsicht: Ein Bundesländer-Vergleich zeige, "dass Nordrhein-Westfalen sich lediglich ins Mittelfeld vorgeschoben hat". Löhrmann hat recht: Thüringen vermeldete 2012 einen Notenschnitt von 2,20; nicht weniger als drei Prozent der Abiturienten erzielten die Bestnote. In Brandenburg hat sich die Quote in einem Jahrzehnt fast vervierfacht — auf etwa 1,7 Prozent 2013. Und selbst in den immer noch als streng geltenden Südländern Bayern und Baden-Württemberg lagen die Abi-Schnitte 2012 mit 2,33 und 2,38 über dem von NRW. "Den Trend zu besseren Abitur-Noten stellen wir in allen Bundesländern fest", sagt Olaf Köller, Bildungsforscher an der Uni Kiel.

Auf der Suche nach den Gründen fallen zwei Faktoren ins Auge, ein struktureller und ein psychologischer. Strukturell heißt: Wer wissen will, warum sich Benotungen verändern, der tut gut daran zu untersuchen, wie sich das Schulsystem verändert hat. Dabei springt sofort eine Zäsur ins Auge: Seit 2007 hat NRW das Zentralabitur. Die Schulen wählen aus einem landesweiten Angebot Aufgaben für ihre Klausuren aus. Anhand der Aufgaben des Vorjahrgangs üben die Lehrer mit den Abiturienten. "Das Zentralabitur ermöglicht ein besseres Training", sagt Rolf Neumann, Direktor des Gymnasiums am Moltkeplatz in Krefeld. "Man lernt besser auf den Punkt, weil sich die Lehrer in der Vorbereitung stärker auf die Pflichtthemen konzentrieren." Die Kehrseite sei eine thematische Verarmung des Unterrichts.

Neumanns Kollege Joachim Rothmann vom Neusser Gymnasium Norf merkt an: "Durch die wachsende Zahl der Aufgaben des zentralen Abiturs gibt es einen wachsenden Aufgabenschatz mit Lösungen. Sehr gute Schüler können sich damit sehr effektiv vorbereiten." Außerdem habe man seit 2007 dazugelernt. So sei es in den ersten Durchgängen teils schwer gewesen, die Höchstpunktzahl zu erreichen, weil für kleine Formfehler Punktabzüge vorgeschrieben waren. Rothmann: "Die Verluste für Banalitäten ärgerten uns. Deswegen weisen wir die Schüler an, stärker auf Kleinigkeiten zu achten. Die Vorbereitung perfektioniert sich."

Ein Übriges tut die Feinsteuerung durch die Schulaufsicht. "Die rät uns schon seit Jahren", sagt Schulleiter Neumann aus Krefeld, "im Zweifelsfall einen Punkt mehr zu geben, auch wenn ein Schüler etwa in den Naturwissenschaften eher zufällig das richtige Ergebnis nennt, ohne den Zusammenhang zu verstehen."

"Großzügigere Korrekturen"

Und dann ist da noch die Psychologie. Zwar sehe er Löhrmanns Argument skeptisch, die Abiturienten seien leistungsbereiter, sagt Bildungsforscher Köller: "Die Pisa-Studien zum Beispiel geben keine klaren Hinweise in der Richtung." Köller verweist stattdessen auf den Konkurrenzkampf der Schulen um die in Zukunft weniger werdenden Schüler — "da ist man vielleicht eher geneigt, mal ein Auge zuzudrücken". Zudem habe das Zentralabitur generell einen Hang zu besseren Noten: "Es sollte möglichst nicht passieren, was neulich in Schweinfurt passiert ist — dass ein ganzer Jahrgang durchs Abitur rasselt. Die logische Folge ist, dass insgesamt eher großzügiger korrigiert wird." Größere Milde beim Korrigieren will auch Neumann nicht ausschließen, erst recht nicht angesichts des Wettlaufs um Studienplätze im Doppeljahrgang.

"Kaffeesatzleserei" ist es dagegen nach Köllers Meinung, Leistungsunterschiede zwischen G 8- und G 9-Abiturienten zu suchen. Eine Hamburger Studie kam 2012 zum Ergebnis, G 8 begünstige eher die Besten, führe also tendenziell auch zu mehr Bestnoten. Der Philologenverband NRW sieht die "Turbo-Abiturienten" generell vorn. Es gibt aber auch Gymnasien, die von praktisch gleichen Ergebnissen oder von besonders guten G 9ern berichten.

Der Trend zu mehr Bestnoten dürfte also anhalten. Das hat er freilich mit dem Zug zum Gymnasium insgesamt gemein. Wechselten 1970 nur knapp 24 Prozent der Viertklässler in NRW ans Gymnasium, waren es 2012 fast 42 Prozent. Einen Unterschied aber gibt es: Das einstmals exklusive Gymnasium ist längst die neue Volksschule. Die Bestnote dagegen wird exklusiv bleiben. Von einer Privatschule am Niederrhein heißt es, sie habe dieses Jahr 19 Prozent "Einsnuller" produziert. Das wird so schnell nicht die Regel. Zum Glück.

(RP)
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