Als Präsident soll Erdogan eigentlich über den Parteien stehen. Das hindert ihn aber nicht daran, Wahlkampf für die islamisch-konservative Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) zu machen. Knapp drei Wochen vor der Parlamentswahl sieht es für die AKP nicht gut aus. Sie liegt in den Umfragen vorne, kommt aber nur auf etwa 40 Prozent der Stimmen. Bei der Wahl 2011 waren es knapp 50 Prozent. Das macht Erdogan Sorge. Er hofft auf eine breite Mehrheit der AKP, an deren Spitze er seit 2003 Premierminister war, bis er 2014 ins Präsidentenamt wechselte. Im nächsten Parlament soll die AKP nämlich eine Verfassungsänderung durchsetzen, die dem Staatsoberhaupt weitgehende Befugnisse gibt. Deshalb geht es bei der Wahl um Erdogan - auch wenn sein Name nicht auf den Stimmzetteln steht.

Immer häufiger spielt der fromme Präsident die religiöse Karte. Als er kürzlich bei einer Kundgebung im südostanatolischen Siirt die Bühne betrat, hielt er einen Koran in einer kurdischen Fassung in der Hand. Die Übersetzung wurde gerade noch rechtzeitig fertig, damit Erdogan das heilige Buch den kurdischen Wählern in deren Muttersprache präsentieren konnte. Damit hofft er, der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) Stimmen abzugraben. Laut Umfragen könnte es die HDP bei dieser Wahl ins Parlament schaffen. Würde es dazu kommen, könnte Erdogan seine Pläne für eine Verfassungsänderung begraben. Der HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas kritisiert, Erdogan instrumentalisiere die religiösen Gefühle der Türken: "Allah hat den Koran nicht geschickt, damit Erdogan damit für sich Werbung macht."