"Es waren apokalyptische Szenen"

Die Passagiere der "Costa Concordia" wurden beim Abendessen von der Kollision des Kreuzfahrtschiffs mit einem Felsen überrascht. Erst als sich der Rumpf schon deutlich auf die Seite zu neigen begann, gab der Kapitän den Befehl zur Evakuierung. Doch die verlief chaotisch. Weiter ist unklar, wie viele der mehr als 4000 Menschen es nicht mehr von Bord schafften.

Die gefährlichen Rettungsarbeiten am Schiffswrack
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Die gefährlichen Rettungsarbeiten am Schiffswrack

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Giglio Hoch wie ein mehrstöckiges Haus liegt die "Costa Concordia" auf den Klippen von Giglio. In die kurvige Rutsche des leergelaufenen Pools auf dem obersten Deck kann man von der Insel aus hereinschauen. Das gewaltige Luxusschiff ist fast in einem 90-Grad-Winkel auf die Felsen gekippt. Rund um das Schiff mit dem fast 70 Meter langen Riss an der Seite suchen die Besatzungen von einem Dutzend Schiffen, neun Hubschraubern, Feuerwehrleute und Taucher nach Vermissten. Einige Passagiere waren im Schiff eingeschlossen, sie wurden bald befreit. Und doch bleibt die Angst, nicht alle gefunden zu haben.

Die Sorge gilt möglichen Überlebenden, die vielleicht noch in dem stählernen Monstrum gefangen sind. Seit das Schiff an der italienischen Westküste nahe der Insel Giglio am Freitagabend gegen 21.30 Uhr einen Felsen rammte, leckschlug, sich drehte und auf die Insel kippte, suchen Taucher und Spezialisten der italienischen Feuerwehr, der Küstenwache und der Armee nach Überlebenden in seinem Inneren. Ein koreanisches Paar in den Flitterwochen kann gerettet werden, danach ein verletzter Offizier. Aber Stunden später finden Taucher im überfluteten Heckteil die ersten Leichen. Die Opfer sind zwei Franzosen und ein Peruaner. Gestern dann stoßen sie an einem Treffpunkt für die Evakuierung nahe dem Schiffsrestaurant auf die leblosen Körper von zwei in Rettungswesten gekleideten älteren Männern. Bei ihnen handelt es sich um einen 68-Jährigen aus Spanien und einen Italiener (85).

Wie lang ist die Liste der Vermissten, lautet die bange Frage auf Giglio. "Das ist sehr kompliziert", sagt ein Feuerwehrmann auf der Mole. "Manche haben sich gerettet, haben sich aber nirgendwo registrieren lassen." Ob es weitere Opfer im Schiff gibt? Er kann es nicht sagen. "Stellen Sie sich vor, das Schiff wäre ein Haus mit zehn Stockwerken. Alle Stockwerke sind voller Wasser. Und dann müssen Sie sich von Zimmer zu Zimmer vorarbeiten."

Neben all den Booten der Küstenwache, der Feuerwehr, der Taucher, der Spezialisten, die in den kommenden Tagen auch die Tonnen von Schweröl und den Schiffsdiesel abpumpen müssen, sieht man im Hafen von Giglio vor allem die gelben Rettungsboote der "Costa Concordia". 150 Personen passen in jedes. Der Hafen ist voll von ihnen. Sie sind vollgestopft mit Rettungswesten, Kartons mit Überlebensrationen. Bei manchen Booten blinken sogar die Notsignale noch.

Auch Ina Karanbache war in einem dieser gelben Boote. Die Frau aus Berlin-Spandau stand in der Bar auf dem fünften Deck, als das Unglück geschah. Am Tag danach ist sie vollkommen übernächtigt in der Schule von Porto Santo Stefano auf dem der Insel Giglio gegenüberliegenden Festland. Sie trägt immer noch dieselben Kleider am Leib. Sie hat nur eine Handtasche, den Rest ihrer Habe musste auf dem Schiff bleiben. Blass ist sie, sehr blass, aber heilfroh, noch am Leben zu sein. Gegen 21.30 Uhr am Freitag, so erzählt sie, hatte sie gerade Kaffee mit Amaretto bestellt. "Wenn ich da gewusst hätte, was mir und meiner 70-jährigen Mutter noch alles bevorstehen würde." Als ein Ruck durch die "Costa Concordia" ging, habe es eine Durchsage gegeben, auch auf Deutsch: Niemand brauche in Panik auszubrechen.

Aber das Schiff geriet zunehmend in Schieflage. Es habe dann einen riesigen Lärm gegeben, als das Geschirr von den gedeckten Tischen rutschte und scheppernd zu Bruch ging. Und dann habe es nicht mehr lange gedauert, bis die Durchsage kam, die Passagiere sollten sich zu den Rettungsbooten begeben. "Wir sind gar nicht mehr in unsere Kabine gegangen, um unsere Sachen zu holen. Mein Leben war mir wichtiger."

Andere Passagiere berichten über totale Dunkelheit nach dem Ausfall der Schiffsbeleuchtung, über Chaos, über eine überforderte Crew. Mütter hätten nach ihren Kindern geschrien, und manchem sei die Todesangst ins Gesicht geschrieben gewesen. Es habe an den richtigen Schwimmwesten gefehlt. Verzweifelt sprangen Dutzende Menschen ins Mittelmeer. "Es waren apokalyptische Szenen, und bei alledem haben wir wenig vom Bordpersonal gesehen", klagt Giuseppe Romano, einer der Kreuzfahrgäste.

Was genau an diesem Abend alles schiefgelaufen ist, damit wird sich in den kommenden Monaten die Justiz beschäftigen. Ist der Kapitän zu nah an der Insel vorbeigefahren, um Eindruck zu schinden, wie italienische Medien spekulieren? Hat es einen Stromausfall gegeben und haben deshalb die Navigationssysteme versagt? Oder hat der Kapitän, nachdem das Schiff auf das Riff fuhr, mit einem geschickten Manöver nicht vielleicht sogar Schlimmeres verhindert?

Die beiden geretteten Crew-Mitglieder in der Turnhalle von Porto Santo Stefano sagen sehr wenig. Nur so viel: "Wir waren damit beschäftigt, die Rettung zu organisieren." Auch ihnen steht der Schock in ihre blassen Gesichter geschrieben. Der Bürgermeister von Porto Santo Stefano, Arturo Cerulli, hatte das alles erst einmal für einen schlechten Scherz gehalten. Er habe des Nachts einen Anruf bekommen und es erst nicht glauben können. Doch dann begann er, die Hilfe zu koordinieren. Die ganze Nacht über pendelten Boote zwischen Giglio und Porto Santo Stefano hin und her. Mit wem man auch spricht, den Küstenbewohnern sind alle zutiefst dankbar. Die Schiffbrüchigen hatten ja meist nur noch ihre Sachen auf dem Leib.

Am Strand von Giglio liegt ein Schuh, ein anderer treibt neben der Mole. Draußen am Wrack arbeiten die Taucher weiter bis zur Erschöpfung. Ihr Einsatz, das wissen alle hier, ist ein Kampf gegen die Zeit.

(RP)
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