Ein Düsseldorfer bei der Bundespräsidentenwahl "Das ist ein erhebender Moment"

Berlin (RP). Er war einer von 1226, die stellvertretend für 82 Millionen Deutsche das Staatsoberhaupt wählten: Der Düsseldorfer Thomas Beckmann erlebte die Bundespräsidentenwahl als Akteur aus nächster Nähe. "Ein unheimliches Erlebnis", lautet sein Fazit.

Die Momente der Entscheidung
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Als SPD-Fraktionschef Peter Struck am Freitag Nachmittag die Mitglieder der SPD-Fraktion in der Bundesversammlung begrüßt, erwähnt er nicht nur die Ministerpräsidenten, nicht nur Handballbundestrainer Heiner Brand. Sondern auch Thomas Beckmann "den weithin bekannten Cellisten aus Düsseldorf, der einen Verein für Arme und Obdachlose gegründet hat".

Beckmann wird aufgefordert, sich zu erheben. Dieses Mal ist es kein musikalischer Beifall, wie er ihn von Tausenden von Konzerten kennt. Dieses Mal ist es ein politischer Beifall. So wie er ihn noch nie erlebt hat. Zu Hause im Flur hängt eingerahmt die Einladung zur Bundesversammlung. Ein Schreiben, wie es nur ganz wenige Nicht-Politiker bekommen.

Und so gehört für Beckmann das Polit-Erlebnis aus allernächster Nähe zu den interessantesten Eindrücken dieser zwei Tage in der Hauptstadt. Vom Fernsehen kennt er sie, aber hier sieht er die Allerwichtigsten des politischen Lebens der Republik in Bund und Ländern direkt. Und staunt etwa, "wie zierlich die Doris Schröder-Köpf in Wirklichkeit ist". Für Beckmann ist bemerkenswert, dass ihm seine Wahlentscheidung stets selbst überlassen worden ist. Er ist parteilos, und sein Obdachlosenhilfeverein "Gemeinsam gegen Kälte" arbeitet selbstverständlich überparteilich.

Zweifel an Schwan

Dennoch weiß er natürlich, was SPD-Landeschefin Hannelore Kraft von ihm erwartete, als sie ihn fragte, für die SPD nach Berlin zu fahren. Seine Freiheit, sich anders zu entscheiden, blieb. Und sie bekam gehörig an Fahrt, als SPD-Kandidatin Gesine Schwan die Debatte über die DDR losbrach, die kein Unrechtsstaat gewesen sein soll. Am Freitag ist Schwan noch einmal in der SPD-Fraktion und versucht intensiv, das "Missverständnis" aufzuklären. Für sie sei die DDR selbstverständlich kein Rechtsstaat, selbstverständlich eine Diktatur gewesen, nur halt den Begriff "Unrechtsstaat", den sehe sie "differenzierter". Beckmann ist beruhigt.

Viele von den Grünen nebenan sind es auch. Aber nicht alle. Auch hier geht Schwan darum noch einmal die Unrechtsstaat-Debatte der letzten Tage durch. Aber hier bekommt sie kräftig Kontra. Vor allem von Marianne Birthler, der Chefin der Stasi-Unterlagen-Behörde. Grünen-Fraktionschef Fritz Kuhn versucht, den Streit positiv zu wenden: Da könne man mal sehen, wie wichtig es sei, das Thema anzusprechen. Und wie wichtig es sei, darüber auch in Zukunft eingehend zu sprechen. Zweifel bleiben bei den Grünen.

Bloß nicht in die Kneipe

Derweil gehen die abendlichen Feiern los. Beckmann und viele andere bekommen den guten Rat mit auf den Weg, das Berliner Nachtleben zu meiden. Da habe es durchaus schon Bundesversammlungen gegeben, bei denen die Regisseure der Fraktionen in Schweiß zu baden hatten, weil versackte Mitglieder unauffindbar oder unansprechbar waren. Die FDP geht auf Nummer sicher. Damit ihnen im wahrsten Sinne des Wortes keiner von Bord geht, haben sie gleich ein ganzes Schiff gemietet und halten die Ihren auf der "Spreekrone" zusammen. Sinnigerweise ist das Ausflugsschiff Rot-Grün gestrichen. Als die Leinen los sind und die Motoren anspringen, fährt ein anderes Schiff beinahe im Schlepptau hinter der FDP her. Aufschrift: "Union wird niemals untergehen."

In der Tat. Für FDP und Union geht es bei dieser Bundespräsidentenwahl um mehr als nur eine Person. Es geht um das Vorzeichen, wer im Herbst die Kraft zum gemeinsamen Regieren bekommt. Und deshalb kommen die Grünen beim Zählappell am Samstag Morgen auch zu dem Schluss, dieses Zeichen zu vereiteln. Da gibt es diejenigen, die Bedenken gegen Schwan haben. Da gibt es diejenigen, wie Uschi Eid, die den Amtsinhaber Horst Köhler eindeutig bevorzugen. Und deshalb gibt Jürgen Trittin die Devise aus: "Schwarz-Gelb will zeigen, dass es regieren kann, dazu müssen wir nicht die Hand reichen." Dezent wird bei den Grünen darauf hingewiesen, dass man sich im ersten und zweiten Wahlgang "durchaus auch enthalten kann".

Fast zu spät

Also kommt es auf die Freien Wähler an. Nur mit ihnen zusammen haben Union und FDP 614 Stimmen. Die absolute Mehrheit beträgt 613. Da darf nichts schief gehen. Am Vorabend sieht es zwischenzeitlich prekär ab. Der Bus mit den Freien Wählern an Bord bleibt mit Maschinenschaden auf der Autobahn bei Ulm liegen. Privatwagen werden organisiert, so dass die Politiker, die das Zünglein an der Waage darstellen, gegen Mitternacht auch endlich in Berlin eingetroffen sind. Doch am nächsten Morgen ist Fraktionschef Hubert Aiwanger vor Beginn der Bundesversammlung zum Interview verabredet. Sein Navi führt ihn indes nach Köpenick statt nach Berlin-Mitte. Auf dem Rückweg strandet er an den Sperren vor der britischen Botschaft. Aber auch er ist am Ende pünktlich im Reichstagsgebäude.

So wie Beckmann. Weil er um 10.56 Uhr noch nicht in der Fraktion ist, wird deren Geschäftsführung leicht nervös. Drei fehlen noch. Dann hat Beckmann seine Stimmunterlagen mit dem goldenen Adler auch in der Hand. Fehlen noch zwei. Die letzte ist Justizministerin Brigitte Zypries, für die der Wahlstand eigens noch einmal aufgemacht wird. Alles komplett.

Der große Moment rückt näher

In den Fraktionen wird nicht nur die Vollzähligkeit ein weiteres Mal kontrolliert. Die Mitglieder bekommen auch erklärt, wie die Regie mit der versuchten Provokation der vier rechtsextremen Mitglieder umgehen will. Die Vier wollen ihren Kandidaten vor dem Hohen Haus herausstellen und beantragen eine Vorstellungsrunde aller vier Kandidaten, obwohl in der Verfassung vorgeschrieben ist, dass die Wahl des Staatsoberhauptes ohne Aussprache erfolgt. Dafür soll eine eigene Geschäftsordnung angenommen werden. Auf diese Weise wollen die Rechten ans Rednerpult und sich darstellen. Doch Union, SPD, FDP, Grüne und Linke haben sich über Nacht darauf verständigt, eine Ergänzung zur Geschäftsordnung zu beschließen, derzufolge auch Geschäftsordnungsanträge ohne Aussprache abgestimmt werden. Der Riegel bleibt zu. Als Einziges bleibt den Rechtsextremen, vor dem Eingang mit dem Bundesadler im Hintergrund für Fotos zu posieren.

Der große Moment für Thomas Beckmann lässt nicht lange auf sich warten. Es wird nach Alphabet gewählt. Beckmann kommt nach Becker und vor Beckstein. Sinnigerweise sind die Wahlausweise für die drei möglichen Wahlgänge in der Reihenfolge Blau — Gelb — Grün gehalten. Die mit Blau-Gelb werbende FDP nimmt es als gutes Omen. Dennoch ist FDP-Chef Guido Westerwelle die Anspannung anzumerken. Er tut alles, um seine Truppe zu einen und nach vorne zu bringen. "Einstimmig" sei die Probeabstimmung in der FDP-Fraktion gewesen, lässt er verbreiten. Doch tatsächlich ist gar nicht abgestimmt worden, schon gar nicht geheim, was dann als echter Test hätte gewertet werden können. Westerwelle wollte lediglich wissen, "ob sich jemand umentschieden hat". Als er nichts hört, nimmt er das als klare Entscheidung für Köhler. Zwar hat er bei der Nominierung Köhlers einmal abstimmen lassen. Aber da waren die Kollegen aus den Ländern noch nicht dabei. Deshalb wirkt Westerwelle weiter angespannt.

Demonstrative Zuversicht

Anders Angela Merkel. Sie ist die Lockerheit in Person. Am Vorabend hat sie noch, tief berührt vom Film beim Staatsakt mit den Sequenzen aus den DDR-Wendezeiten, eine Episode erzählt, die bislang nicht bekannt war. Als die DDR nicht mehr existierte und es daher auch für Merkel als stellvertretende Regierungssprecherin der DDR keinen Job mehr gab, habe sie beim Bundespresseamt in Bonn angeklopft und um Arbeit nachgesucht. Doch bei der amtsärztlichen Untersuchung sei sie schon stecken geblieben. Wegen ihres hohen Blutdruckes sei sie "für den Staatsdienst nicht geeignet", lautete damals der Befund. Die Unionsleute prusten vor Lachen.

Auch am Samstag Morgen sind sie die Zuversicht selbst. Fraktionschef Volker Kauder geht nicht nur davon aus, dass es "gleich im ersten Wahlgang" für Köhler klappen wird. Er legt sich auch auf "mehr als 620 Stimmen" fest. Niedersachsen-Regierungschef Christian Wulff klammert sich an diese Version. Schließlich will er so schnell wie möglich wieder weg — zur Meisterschaftsfeier am Nachmittag nach Wolfsburg. Auch Bayerns FDP-Chefin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist sicher: "Es gibt nur einen Wahlgang; mein Flieger geht um fünf."

Was tun während des Wartens?

Die Fraktionen haben sicherheitshalber Vorsorge getroffen und in Nebenräumen Fernseher aufgestellt, über die auch während eines zweiten oder dritten Wahlganges die Schlusskonferenz der Fußballmeisterschaft verfolgt werden kann. Und sicher kann es keiner wissen, der nun in der rund eine Stunde währenden Prozedur zur Wahl schreitet, dass er dieses heute nur einmal tun wird. Für Beckmann ist das ein "erhebender Moment". Und wie er da nach dem Ausfüllen des großen blauen Stimmzettels und dem Schließen des Briefumschlages noch in der Wahlkabine wieder in den Plenarsaal tritt, da wird ihm so richtig bewusst, an was er gerade beteiligt ist: "Das ist Volkes Wille."

Aber von Beckmann bis Zimmermann ist es noch eine lange Zeit. In der Lobby laufen die Interviews parallel im Dutzend. Struck gibt immer wieder zu Protokoll, dass das Ergebnis dieser Wahl, wie es auch sein mag, keinen Einfluss auf die Bundestagswahl haben werde. Neben ihm steht Kauder. Sie sprechen von einer Freundschaft, die in der Zeit der großen Koalition zwischen ihnen gewachsen sei, und dass diese "nicht immer einfach, aber verlässlich" gewesen sei. Wie verlässlich die Reihen im Plenum sind, fragen sich viele Beteiligte. Westerwelle und Merkel in einer Reihe, hinter Merkel ungewöhnlich einträchtig die stellvertretenden CDU-Vorsitzenden und Ministerpräsidenten. Bei der SPD haben Struck und Parteichef Franz Müntefering ihre Kandidatin in die Mitte genommen. Wowereit wird an interessanter Stelle ausgemacht: Hinter Linke-Kandidat Peter Sodann und neben Linke-Fraktionschef Gregor Gysi.

Wo bleibt bloß Köhler?

Die Auszählung läuft und läuft. Die Spannung steigt. Die Kanzlerin aber wirkt gelöst. Und wenig später geht es wie eine Welle durch den Saal "613!" "613?" "613!" Mit dem denkbar knappsten Ergebnis scheint Horst Köhler es gleich im ersten Wahlgang geschafft zu haben. Aber es ist Flüsterpropaganda. Keine amtliche Mitteilung. Die Bundestagsverwaltung setzt der Ungeschicklichkeit die Krone auf. Offiziell kann es noch zwei weitere Wahlgänge geben. Aber sie lässt schon mal die Musiker im Saal Platz nehmen. Und den Parteichefs die Blumensträuße unter den Stuhl legen. Später wird die Suche losgehen, wer für diese Panne verantwortlich ist. Einfach stillos, wie da mit der Bundesversammlung umgegangen wird, kritisieren viele.

14.13 Uhr. Lang kann es bis zur Verkündigung nicht mehr dauern. Aber es dauert. Und dauert. Und dauert. Bundestagspräsident Norbert Lammert geht vor die Stufen des Hohen Hauses. Köhler hatte bei der Begrüßung auf der Tribüne Platz genommen. Dann aber ist er wieder zu seinem Amtssitz gefahren. Erst nach dem letzten Wahlgang will er wieder kommen. Dass es so schnell geht, hat er wohl selbst nicht für möglich gehalten. Lammert wartet. Und wartet. Und wartet. Er schickt eine SMS. Es vergehen drei Minuten, fünf, sieben. Da endlich biegen die Limousinen um die Ecke des Reichstagsgebäudes. Köhler steigt aus, wird von Lammert beglückwünscht. Beide gehen ins Haus. Und dann ist es endlich offiziell: 613 für Köhler. Punktlandung. Vier für Frank Rennicke. Keine Stimme mehr für den Kandidaten der Rechtsextremen. 503 für Gesine Schwan. Also zehn weniger als Rot-Grün Stimmen hat. Dafür gibt es zehn Enthaltungen. Kein Wunschergebnis, aber auch keine Schmach. Und 91 für Sodann, also eine mehr als die Linke selbst aufbringt.

Ein letztes Mal Applaus

Strahlende Gesichter bei Union und FDP beim Empfang des Bundestagspräsidenten zwei Etagen höher. Verbitterung bei den Sozialdemokraten, dass es nicht wenigstens eine Stimme weniger war für Köhler. Gerne hätte man sich hier die Hoffnungen für einen zweiten und dritten Wahlgang erhalten. "Ich hasse es zu verlieren", sagt eine Sozialdemokratin zur anderen. Drinnen versucht Müntefering, bei einer neuerlichen Fraktionssitzung die Stimmung zu heben. "Gesine wäre eine gute Bundespräsidentin geworden", sagt er, und ein letztes Mal bekommt Schwan lebhaften Applaus.

(RP)
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