Antisemitismus

So eisig muss man es sagen: Wer in Deutschland einen Antisemiten finden will, muss nicht lange suchen. Zum Abzählen reicht eine Hand, denn bei jedem fünften Deutschen gibt es latenten Antisemitismus. Diesen Befund einer Expertengruppe kann man bestürzend und den Zustand unserer Gesellschaft bedenklich nennen. Alles richtig. Es ist das wohlfeile Urteil, das aus der Haltung einer Betroffenheit erwächst, mit der oft Aufklärung betrieben wird. An Büchern und Filmen über die Shoah mangelt es ja nicht, ebenso wenig an Gedenkstätten und Museen. Nur: Ihre Wirkung war offenbar gering.

Zu lange hingen wir dem Glauben an, man könne aus der Geschichte lernen; aus einer Historie freilich, die wir stets nur im Präteritum erzählten: Es war einmal. Dabei versäumten wir, die Geschichte in die Gegenwart zu verlängern. Ein "routiniertes Gedenken" nannte das gestern Charlotte Knobloch, Vizepräsidentin des Jüdischen Weltkongresses. Diese Routine hat uns die Geschichte vom Leib gehalten, sie war weit weg, sie stand in der Vitrine zur Betrachtung. Nun müssen wir erkennen, dass Geschichte nicht endet, dass sie keine Stichtage hat. Das zu begreifen ist unser Erbe: Wir sind es den Opfern von damals und ihren Nachfahren von heute schuldig.

(RP)
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