Der Überlebenskampf der Meistersinger

Männermangel ist ein gravierendes Problem in vielen Chören. Dabei können die Dirigenten viel tun, um der Krise zu begegnen.

Manche sprechen von ihnen wie von schwerkranken Patienten. Es drohe die Auszehrung, die Zahl der roten Blutkörperchen habe bereits dramatisch abgenommen, und mancher muss schon an den Tropf. Unter Experten und Laien hat das Wort vom "Chorsterben" die Runde gemacht und mancherorts epidemische Ausmaße angenommen. Vor allem Männerstimmen fehlen und müssen, sofern in Kirche oder Konzertsaal große Stücke aufgeführt werden, von anderen Chören geborgt werden. Oder die verbliebenen Helden müssen, um den Fehlstand zu kompensieren, ihre Stimme so strapazieren, dass sie beim HNO-Arzt landen, weil sie sich heiser gesungen haben.

Neu ist das nicht. Immer schon haben beispielsweise Kirchenchöre mindestens doppelt so viele Sopranistinnen und Altistinnen wie Tenöre und Bässe in ihren Reihen. Eklatant ist seit eh und je der Mangel in den Tenören, und fast schon Legenden ranken sich um jene tiefen Frauenstimmen mit Damenbart, die im Tenor aushelfen. Dass Frauen lieber singen als Männer, stimmt so nicht, aber viele Männer bleiben ja abends auch gern unter sich.

Das Sterben hat vor allem den guten alten Männergesangverein, den MGV, erfasst. Er war über Jahrzehnte eine Stütze des bürgerlichen Musiklebens. Man traf sich im Saal der größten Kneipe im Ort, trank vor der Probe zwei Pils und rauchte ein Zigarettchen, hatte vieles zu beklönen und gemeinschaftlich den Umzug vom Jupp zu planen. Wenn der Chorleiter kam, ging es zur Sache. Und sobald das Wertungssingen für das Meisterchor-Prädikat nahte, warfen sich alle in Schale, auch stimmlich. Wer je einen Männerchor in voller Pracht erlebt hat, dem ging das Herz auf.

Die Qualität dieser Chöre lag und liegt auch in einer hohen Kompetenz für einmal erlerntes Repertoire. Wer mal "Die Julischka, die Julischka aus Buda-Budapest" intus hatte, der bekam sie nicht mehr raus aus dem Kopf. Und weil die Dirigenten das Stück wegen seiner Schmissigkeit immer gern aufs Programm setzten, wurde es zum Ohrwurm.

Aber Ohrwürmer können im Laufe der Zeit zur Plage werden. Irgendwann verlieren sie an Sinnenkitzel und Anschmiegsamkeit - und wenn der alte Chorleiter stirbt, mit dem man Jahrzehnte verbracht hat, steht plötzlich ein grünes Jüngelchen vor dem Chor und beginnt unter der Last eines Repertoires zu ächzen, das nicht konsequent genug erweitert und modernisiert wurde. Und wenn sich der neue junge Chorleiter umsieht, blickt er in Gesichter vieler Herren, die seine Großväter sein könnten.

Aber das mit der Modernisierung ist so eine Sache. Wer soll denn neue Sachen komponieren? Es mangelt an Arrangeuren, die beispielsweise moderne Pop-Songs für Männerchor tauglich machen. Von "Viva La Vida" von Coldplay gibt es viele Bearbeitungen für gemischten Chor, doch nur eine gut lernbare für Männerchor (von Jerry Estes). Welcher MGV-Leiter kennt sie?

Dieses Internet ist jedoch ein exzellentes Auskunftsbüro zur Widerlegung eines gesamtheitlichen Chorsterbens. Junge Chöre schießen wie Pilze aus dem Boden, Pop- und Gospelchöre bevölkern auf wunderbare Weise inflationär unseren Planeten - und singen die Musik ihrer Zeit, unserer Zeit. Vielleicht ist es ein Ablösungsphänomen, dass in den vergangenen zehn Jahren laut Deutschem Chorverband fast 500 Männerchöre eingegangen sind; vielleicht geht die Zeit der Männer in den schwarzen Anzügen, weißen Hemden und propellerartigen Fliegen um den Hals ihrem Ende entgegen. Das wäre unendlich schade.

Doch ist das als Prognose zu düster, denn es gibt Männerchöre, die sich nicht nur gut halten, sondern sogar eine Warteliste für neue Mitstreiter haben. Dies sind Laienchöre, die sich ausschließlichan hoher Qualität orientieren; ihre Chorleiter setzen auf Stimmbildung und feine Nuancen statt auf rustikales Dauerforte. Diese Chöre sind leider (vorerst) absolute Ausnahmen.

Wenn sich einige Chöre nicht gut halten, liegt das auch an der vereinshaften Form, laut der man an 50 Abenden im Jahr einmal pro Woche zwei Stunden zur Verfügung zu stehen hat. Jedoch haben immer weniger Sänger Dienstpläne, die es ihnen erlauben, dienstags pünktlich um 20 Uhr die Noten aufzuschlagen. Der flexibel arbeitende Mensch von heute ist vielseitig vernetzt, nutzt spontan die Angebote der Freizeitindustrie - und nicht jeder ist bereit, sich regelmäßig den Dienstag unverrückbar in den Kalender zu nageln.

Darin liegt auch der Fluch der Zeit. Die moderne Freizeit- und Konsumgesellschaft arbeitet dem Prinzip nach mit den verführerischsten Lockvögeln, Honigtöpfen und Blickfängen, sie ist wie ein saugender Schwamm - und was heute modern ist, ist morgen schon wieder ein alter Hut. Die Menschen heute binden sich nicht mehr so schnell, sie suchen sich sorgfältig aus, was sie tun, denn sie wollen ja nichts verpassen und sich ihre Freizeit präzise einteilen. Darunter leiden auch viele Chöre.

Dabei sind Chöre die wahren Kontakthöfe der Zivilisation, nirgendwo sonst lernt man so schnell neue Leute kennen. Viele Neulinge in einer Stadt suchen sich als erstes eine Singgemeinschaft - und dabei sind sie kritisch: Was bietet mir der Chor? Sind die Mitsänger in meiner Altersgruppe? Gefällt mir das Repertoire?

Chöre sind immer auch Sozialverband, menschliche Auffangstation, sie sind Freudenquell und Kummerkasten. Eine wirklich gute Probe macht immer Spaß. Dazu muss sie gut vorbereitet sein. Der ideale Chorleiter findet die Balance zwischen Frohsinn und Diktatur - ein schwieriger Job. Wer ihn gut ausübt, wird die Früchte der Arbeit schnell ernten können. Nur ein Chorleiter, der sich selbst gegenüber anspruchsvoll ist, wird auch seine Sänger zu anspruchsvollen, engagierten Musikern machen. Dazu zählt auch: sich ab und zu Rat von außen zu holen. Chorleiter glauben immer, es untergrabe ihre Autorität, wenn sie mal einen professionellen Stimmbildner in die Probe einladen. Das Gegenteil ist der Fall. Seine Sänger werden vielmehr spüren, wie wichtig dem Chorleiter die Sache ist. Außerdem macht es ihn menschlich, wenn er zeigt, dass er nicht allwissend ist.

Das Problem des Männermangels in gemischten Chören hat übrigens nicht wenig mit der Aufstellung zu tun. In den meisten gemischten Chören stehen die Männer hinter den Frauen. Chorakustisch ist das der reine Horror, absoluter Unsinn. Männer, in die hinteren Reihen weggesperrt, singen ins füllige Haupthaar der vor ihnen stehenden Damen. Und optisch werden sie zur Bedeutungslosigkeit abgestempelt: Wer hinten steht, fällt nicht auf und stört nicht das Bild. Dabei stören Männer keineswegs, wenn sie in der ersten Reihe stehen. Die akustische Balance ist nun aber deutlich besser und ausgewogener.

Jedenfalls ist es von ungeheurer Wichtigkeit, dass jeder Sänger den Chor nicht nur als Vergnügen ansieht, zu dem man gehen kann, wenn man nichts Besseres vorhat. Sobald man einem Chor beitritt, ist man Mannschaftssportler. Man ist Teil des Trainings. Man ist so wichtig wie jeder andere. In jedem Chor gibt es stimmliche Führungskräfte und Wasserträger, Laute und Leise, Dunkle und Helle, Vom-Blatt-Sänger und Langsamlerner. Doch jeder Einzelne ist in diesem Apparat von eminenter Wichtigkeit, er rundet den Klang, füllt ihn, macht ihn durch Addition schlagkräftig, erzen, weich oder cremig. Allerdings müssen Chorleiter ihre Sänger auch ernst nehmen und sie fordern. Im Klartext heißt das: Ab und zu eine Probe von Mann zu Mann. Oder Frau. Einzelunterricht. Choristen sind dafür dankbar.

Wenn Chöre alles beherzigen und sich auf sich selbst und auf ihren Auftrag verpflichten, dann klappt das auch mit der Zukunft. Und mit dem Nachwuchs vielleicht auch. Viva la vida: Es lebe das Überleben!

(w.g.)
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