Wird "Die Wolke" Wirklichkeit?

Ein Jugendbuch in Millionen-Auflage, das lange Pflichtlektüre im Unterricht war, prägte in den 80er und 90er Jahren die Angst einer ganzen Generation vor einer Atomkatastrophe in einem deutschen Kernkraftwerk. Jetzt laufen in den Nachrichten Bilder, die wie eine Wirklichkeits-Version der angsteinflößende Erzählung "Die Wolke" ausehen.

Grafenrheinfeld Der neu gestaltete Kirchplatz soll einer der schönsten im Frankenland sein, in der Amtsvogtei aus dem Jahr 1626 gibt es einen schmucken Gasthof. Die bayerische Gemeinde Grafenrheinfeld (3400 Einwohner) wirbt lieber mit dem regionalen Kraut-Anbau als mit ihrer bekanntesten Sehenswürdigkeit, die eine ganze Generation von Schulkindern kennt: Für mehr als eine Million Leser des 1987 erschienen Jugendbuchs "Die Wolke" ist das Kernkraftwerk Grafenrheinfeld der Inbegriff einer drohenden Atomkatastrophe. Bis heute gehört das Buch an vielen Schulen zum festen Lesestoff im Deutsch-Unterricht. Jetzt zeigen die Nachrichten täglich genau die Bilder, die die Autorin Gudrun Pausewang ein Jahr nach der Katastrophe von Tschernobyl mahnend in Romanform goss: "Jetzt werden wir nicht mehr sagen können, wir hätten von nichts gewusst", lautete der Untertitel des Buchs, das so etwas wie die letzte Rache der ausklingenden Anti-Atom-Bewegung an der Ära Kohl war.

Aktuell steht "Die Wolke", deren bereits 13. Auflage 2010 gedruckt wurde, wieder ganz oben auf den Bestseller-Listen. Innerhalb von drei Tagen schoss es beim Internet-Buchhändler Amazon in die Top 20, bei den Jugendbüchern steht es aktuell auf Platz 1. "Großartiges Buch, hab es heute in der Schule vorgestellt. Den Film sollte man eigentlich öfter im Fernsehen zeigen", schrieb "Engel199999" gestern auf der Internet-Videoplattform "Youtube" unter einen Ausschnitt der Buchverfilmung. Gudrun Pausewang, die eigentlich Wilcke heißt, meldete sich gestern in einem Interview mit der Behauptung zu Wort: "Ich habe davor gewarnt."

Dass die Nachrichten-Bilder aus Japan überwiegend die Folgen des Erdbebens und des Tsunamis zeigen, die mit der weiter drohenden Katastrophe in den Atomreaktoren überhaupt nichts zu tun haben, geht in der Hitze der Debatte derzeit unter. Mahnwachen und Demonstrationen gegen Atomkraft haben in diesen Tagen fast mehr Zulauf als unmittelbar nach der Katastrophe von Tschernobyl vor 25 Jahren am 26. April 1986, als nackte Angst das Klima in Deutschland beherrschte. Kinderspielplätze wurden gesperrt, komplette Gemüseernten untergepflügt, Pilze galten für lange Zeit als ungenießbar.

Diese Angst konservierte und steigerte Gudrun Pausewang in ihrem Buch "Die Wolke", dass ein Jahr später erschien. Hauptperson des Buches ist die 15-jährige Janna-Berta. Sie ist gerade in der Schule, als im 80 Kilometer entfernten Kernkraftwerk Grafenrheinfeld Alarm ausgelöst wird. Ihr kleiner Bruder ist alleine zuhause, ihre Eltern sind mit dem Baby in der Nähe des Kernkraftwerks. Auf Fahrrädern fliehen Janna-Berta und ihr Bruder vor der radioaktiven Wolke, eine Geschichte des Elends und des Leids beginnt. Der kleine Bruder wird von einem fliehenden Autofahrer totgefahren; die 15-Jährige muss ihn in einem Rapsfeld zurücklassen.

Weiter geht die wilde Flucht, Hippies nehmen Janna-Berta schließlich ihrem VW-Bus mit. An der DDR-Grenze wird auf die Flüchtlinge geschossen, überall herrscht Angst vor den radioaktiv verseuchten Flüchtlingen. Das Mädchen landet schließlich in einem Notkrankenhaus. Als ein Politiker behauptet, es werde alles wieder gut, erwacht Janna-Berta Widerstandsgeist. Ein Mädchen, mit dem sie sich anfreundet, stirbt bald. Eine Tante holt sie zu sich nach Hamburg, ihre Eltern und das Baby sind tot.

Janna-Berta und die anderen Kinder, die die Katastrophe überlebt haben, nennen sich jetzt "Hibakusha" – wie die überlebenden Strahlenopfer der Atombomben-Abwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Das Mädchen wird angefeindet, weil es seinen Haarausfall infolge der Verstrahlung nicht unter einer Mütze oder Perücke verbergen will. Ein früherer Schulfreund zerbricht an seinem Schicksal und bringt sich um. Als die Sperrzone wieder aufgehoben wird, fährt sie zurück zu dem Rapsfeld, in dem sie ihren toten Bruder zurückgelassen hat, und begräbt ihn. In ihrem früheren Elternhaus findet sie schließlich ihren Opa und ihre Oma, die gerade erst von einem langen Mallorca-Urlaub zurückgekehrt sind. Sie wissen nicht, das fast die gesamte Familie tot oder strahlenkrank ist. Als der Opa erklärt, die Katastrophe sei von den Medien aufgebauscht worden, lautet der Schlusssatz des Buches: "Da zog Janna-Berta die Mütze vom Kopf und begann zu sprechen."

In "Die Wolke" gibt es nichts zu lachen, es gibt richtig und falsch. "Gudrun Pausewang möchte ihre Leser davon überzeugen, dass es nichts bringt, Probleme zu verdrängen, da man sich nur selbst belügt und trotzdem irgendwann die Wahrheit akzeptieren muss, ob man will oder nicht", hat eine Schülerin pflichtschuldig in ihre Schul-Interpretation geschrieben. "Ein Buch", hat der Verlag die Rückseite des Einbands geschrieben, "das wachrütteln will und die Gefahr bewusst machen, in der wir uns befinden, das zum Nachdenken auffordert – und zum Widerstand."

Als 2006 die Verfilmung in die Kinos kam, erklärte die Autorin in einem Interview, oft hätten ihr Jugendliche beteuert, dass dieses oder jenes ihrer Bücher ihrem Leben eine bestimmte Richtung gegeben habe, und sie fügte hinzu: "Einige der damals jungen Menschen sind als längst Erwachsene sicher in Machtpositionen vorgerückt."

Andere haben sich schreibend von ihr befreit: Einer der Schüler der früheren Grundschullehrerin war der Autor Florian Illies, der im Jahr 2000 das Buch "Generation Golf" schrieb und die in den 1980er Jahren Aufgewachsenen als eine Altersgruppe schildert, die nicht zuletzt durch den moralischem Rigorismus ihrer Lehrer nachhaltig entpolitisiert wurden. Man kann sie verstehen.

(RP)
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