Mönchengladbach Warten auf das Pflegekind

Mönchengladbach · Die Mönchengladbacherin Claudia P.* hat in ihrem Leben schon 57 Kinder beherbergt - Kleinkinder und Säuglinge, viele von ihnen mit Behinderung. Für alle benötigte die Stadt dringend eine vorübergehende Obhut.

 Claudia P. in einem der beiden Schlafzimmer, in denen sie im Notfall Pflegekinder aufnimmt. Das Bettchen ist leer, die Einrichtung absichtlich etwas kahl.

Claudia P. in einem der beiden Schlafzimmer, in denen sie im Notfall Pflegekinder aufnimmt. Das Bettchen ist leer, die Einrichtung absichtlich etwas kahl.

Foto: Isa Raupold

Das Kinderzimmer mit dem kleinen Dachfenster ist kahl eingerichtet. Ein kleiner Wandteppich mit Sonne und Mond an der Wand, ein Mobile baumelt von der Holzdecke. Strampler liegen gefaltet auf der Kommode. In lila und blau. Das weiße Bettchen ist leer. Claudia P.* sagt, dass man das inzwischen bei Kleinkindern ja so macht.

Eine Etage darunter steht der weiße Laufstall, das Tor ist offen. In den Regalen im Spielzimmer liegen Puppen, Spielzeugautos parken darüber, Puzzle und Memory-Spiele, Playmobil-Figuren, Fußball-Bücher und Sportzeitschriften. Spielzeug für Mädchen und Jungen, große und kleine. An dem Tisch sind die Stühlchen akkurat herangesetzt.

Typische Kinderzimmer - wenn da nicht die Ordnung wäre. Alles ist penibel aufgeräumt, kein Chaos, wie es ein Kind beim Spielen nun einmal anrichten würde. Das liegt daran, dass die Zimmer zurzeit gar nicht bewohnt werden. Es könnte aber jeden Moment soweit sein, wenn Claudia P.s Telefon klingelt, der Sozialdienst der Stadt sich meldet und dringend ein wohlbehütetes Zuhause für ein Kind benötigt. Claudia P. ist Pflegemutter, im Grunde ist sie permanent im Wartestand auf das nächste Pflegekind. In ihren Zimmerchen haben in den vergangenen 16 Jahren schon 57 Kleinkinder im Notfall ein Obdach gefunden.

Im September 2016 befanden sich nach Angaben der Stadt insgesamt 387 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in der Obhut von Pflegefamilien.

Es ist nicht so, als hätte Claudia P. nicht genug Kinder: zwei erwachsene Söhne, einer davon hat wiederum drei Kinder. Sie hat zwei ebenfalls inzwischen erwachsene Kinder zur Dauerpflege aufgenommen. Und sie hat ein Mädchen mit Behinderung adoptiert, das ursprünglich als Pflegekind zu ihr gekommen war. Es ist jetzt 16 Jahre alt. "Ein Leben ohne Kinder ist für mich schwer vorstellbar. Ich wollte immer Pflegekinder bei mir aufnehmen", sagt sie. "Meine Eltern haben das auch so gemacht. Ich bin mit Pflegekindern zusammen aufgewachsen. Ich finde das spannend. Und so lange ich neugierig bin, mache ich das auch weiter." Zwei solcher Plätze hat sie deshalb in ihrem Häuschen am Rande der Stadt dafür hergerichtet.

Claudia P.s muntere Patchwork-Familie ist eine von etwa zehn bis zwölf in der Stadt, die Kinder nicht zur Dauerpflege aufnehmen. Sondern bei akuten Notfällen bereitstehen. Etwa wenn die leiblichen Eltern sich nicht um das Kind kümmern können. Weil sie krank, dazu nicht in der Lage, vielleicht wohnungslos sind. Oft spielen auch Drogen eine Rolle, Gewalt, Misshandlungen. Und bevor zum Beispiel ein Gericht entschieden hat, was mit dem Kind nun werden soll, bevor die Perspektive geklärt ist, kann es einige Zeit dauern. Manchmal bis zu einem Jahr. Bis dahin leben die Kinder in einer Bereitschaftspflegefamilie.

Seit 2007 ist der Betrieb der Babyklappe am Krankenhaus Neuwerk erlaubt. Seitdem wurden dort sieben Säuglinge ins Babyfenster gelegt und in Familien zur Adoption vermittelt.

Ihr erstes Kind zur Dauerpflege nahm Claudia P. 1985 bei sich auf. Kurz darauf zog sie nach Mönchengladbach und meldete den Ziehsohn entsprechend den Behörden. Wenig später suchte das Jugendamt einen Unterschlupf für einen Jungen mit geistiger Behinderung und fragte bei Claudia P. nach. "Ich hatte das Gefühl, dass ein Heim in diesem Fall nicht der richtige Unterbringungsort gewesen wäre", erinnert sie sich. Sie und ihre Familie nahmen Stefan* kurz vor Weihnachten 1985 als zweites Dauerpflegekind auf. Er lebt noch heute bei ihr zusammen mit der Adoptivtochter.

Als die Kinder erwachsen wurden und zum Teil auszogen, entschied sie sich im Jahr 2000, wieder Pflegekinder bei sich aufzunehmen. Diesmal aber nicht auf Dauer, sondern zur Bereitschaft. Sie ist eingerichtet auf alles. Kinderwagen, Kleidung in Kindergrößen, für Mädchen und Jungen, großes Auto mit Platz für Rollstuhlfahrer - alles da. Für die Stadt ist sie auch deshalb so wichtig, weil sie als Krankenschwester in der Psychiatrie und Arzthelferin in einer psychiatrischen Praxis (sie arbeitet aber lange nicht mehr im Beruf) besonders auf Kinder mit Behinderung spezialisiert ist. Einmal päppelte sie ein Kind über Monate auf, dass als Totgeburt zur Welt gekommen war, aber wiederbelebt wurde.

Seit Mai 2014 gibt es die so genannte vertrauliche Geburt in jeder Geburtsklinik, bei der die Daten der Mutter anonym bleiben und nur an zentraler Stelle gespeichert werden. Seitdem haben sich in Mönchengladbach drei Frauen für die vertrauliche Geburt entschieden.

Man merkt Claudia P. an, dass sie rigoros sein kann. Sie hat klare Vorstellungen, nach denen sie handelt. Und nach denen sie auch ihre Pflegekinder behandelt. Das Problem ist nämlich: Ihr Zuhause darf für die Kleinen immer nur eine Übergangsstation sein. Sie darf keine so enge Bindung zu dem Kind aufbauen, dass es nicht mehr loslassen kann. "Wenn ich ein Kind in eine Familie zur Adoption abgebe, dann dürfen nie Tränen fließen", sagt sie. "Alle meine Kinder wissen, dass sie leibliche Eltern haben. Sie wachsen damit auf, behalten ihren Namen. Das ist Teil ihrer Identität." Und dazu gehört auch die Zeit in der Pflegefamilie. Für jedes Kind legt Claudia P. ein Fotoalbum mit Bildern aus der Zeit bei ihr an. "Jeder Mensch braucht Babyfotos. Sonst fehlt doch etwas im Leben." Manche Kinder haben das Album später entdeckt und sich wieder bei ihrer alten Pflegemutter gemeldet, Freundschaften sind so entstanden. Ein kleinwüchsiges Kind, das heute neun Jahre alt ist, will sie nächstes Jahr aus München besuchen kommen. Claudia P. sagt, sie muss dem Kind eine besonders ausbalancierte Beziehung anbieten. Wärme und Nähe, aber doch nicht so exklusiv, wie es eine leibliche Mutter tut. Deshalb nimmt sie sich auch zwei Abende in der Woche frei und geht mit Freunden aus. Dann kommen Babysitter für die Pflegekinder.

Von Januar bis September 2016 war für 38 Kinder und junge Menschen die Zielperspektive Adoption benannt. Bis dahin war für sieben Kinder und Jugendliche die Adoption konkret beschlossen.

Loslassen muss funktionieren. Statt Trauer gibt es zum Umzug deshalb eine kleine Feier mit Kuchen am gedeckten Tisch. Und sie selbst fährt danach in Urlaub an die Nordsee und schaut so gerne vom Deich aufs Meer. Nur einmal hat sie nicht losgelassen: bei ihrer heutigen Adoptivtochter Laura*. Das Mädchen mit Behinderung hat inzwischen auch P.s Namen angenommen, trifft sich aber auch mit ihren leiblichen Eltern. "Sie kam mit schlimmer Prognose zu mir, heute läuft sie herum und schwätzt ohne Punkt und Komma." Für sie war Adoption genau der richtige Weg. Claudia P. sagt deshalb, sie kann Eltern verstehen, die ihr Kind anderen Eltern anvertrauen. "Ich würde das niemals verurteilen."

*Namen der Redaktion bekannt.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort