Gastbeitrag Renate Harnacke Warum Mönchengladbach einen Masterplan für frühkindliche Bildung braucht

Mönchengladbach · Jedes dritte Kind wächst in der Stadt in Armut auf. Vielen fehlt es vor der Einschulung an Koordination und sprachlichen Fähigkeiten. Unsere Gastautorin erklärt, weshalb ein frühes Eingreifen und eine intensive Förderung wichtig sind.

 Kindermalen mit einer Erzieherin in der Kindertagesstätte.

Kindermalen mit einer Erzieherin in der Kindertagesstätte.

Foto: Lars Fröhlich

Mönchengladbach hat viel zu bieten: eine würdevolle, lange Geschichte mit einem prächtigen Münster, ein international bekanntes Museum, sehr viel Grün, eine Textilgeschichte, die früher zu Wohlstand geführt hat und heute vor einer Art „Neuauflage“ steht, etliche Berühmtheiten und natürlich Borussia.

 Kinderärztin Renate Harnacke am Schreibtisch in der Praxis

Kinderärztin Renate Harnacke am Schreibtisch in der Praxis

Foto: Reichartz,Hans-Peter(hpr)/Reichartz, Hans-Peter (hpr)

Und dennoch haben viele Menschen, die gerne in Mönchengladbach leben und wirken, immer wieder ein starkes Störgefühl, nämlich, dass in der Stadt auch Wesentliches nicht stimmt. An vielen Orten ist sicht- und fühlbar, dass Mönchengladbach eine Stadt ist mit einer sehr hohen Zahl an Transferempfängern. Jedes dritte Kind wächst hier in Armut auf – deutschlandweit ist es nur jedes fünfte Kind. 

Diese Umstände sind ein wesentlicher Grund dafür, dass eine viel zu hohe Zahl von Kindern, die zur Einschulung anstehen, nicht schulreif ist. Den Kindern fehlt es an Koordination und sprachlichen Fähigkeiten, um den behutsamen Anforderungen der ersten Klasse gewachsen zu sein. Mehr als verständlich ist es, dass diese Kindern keine Lernfreude in der Schule entwickeln können, häufig „abschalten“, und manchmal auch noch zu einer Art „Klassenclown“ mutieren. 

In der dritten und vierten Klasse sind diese Kinder dann häufig nicht in der Lage, auch nur gering anspruchsvolle Texte sinnverstehend zu lesen. Wie sollen sie jemals Briefe an sie, zum Beispiel von Versicherungen oder Banken, erfassen können?

Angekommen in der Hauptschule oder in der Gemeinschaftsschule und in der Pubertät wird dann häufig das Lernen so abgelehnt, dass die Jugendlichen ohne Schulabschluss bleiben. Für den Ausbildungsmarkt sind sie häufig ungeeignet, und es bleibt eigentlich für sie nur eine Existenz als Transferempfänger. In Mönchengladbach gibt es eine sehr hohe Zahl an Familien, die schon seit Generationen als Transferempfänger lebt.

Wie kann das sein? Zahlen wir nicht 60 Millionen Euro jährlich für Hilfen zur Erziehung? Dadurch müssten wir doch längst Erfolge erzielt haben. Leider jedoch fehlt hier noch ein nachhaltiges und nachweisbares Vorankommen. Die Zahl derjenigen, die ihren Erziehungsaufträgen nicht nachkommen können, ist nach wie vor zu hoch. Von städtischer Seite ist man seit einigen Jahren dabei, sozialpädagogisch geschulte Kräfte als aufsuchende Hilfen einzusetzen. Es wird beobachtet, wie sich diese im Vergleich zu früher höhere Qualifikation auf die Ergebnisse auswirkt. Sicher kann man hier davon ausgehen, dass diese höhere Qualifikation zu einer besseren Schulung der Eltern führt, einhergehend mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für ein „Herauskommen aus dem Teufelskreis“ der Familien.

Was können wir denn früher tun, also in der frühkindlichen Bildung, um unsere Kinder mit sechs Jahren auch schulfähig zu haben? Wir sollten alles daran setzen, einen „Masterplan für frühkindliche Bildung“ zu erstellen. Jedes Elternteil ist, wenn sich ein Kind „ankündigt“ maximal motiviert, für dieses Kind alles zu tun, damit es ihm gut geht. Noch in der Schwangerschaft sind Gruppen hilfreich, die im Miteinander vermitteln, wie wichtig schon der Anfang ist. In der vorgeburtlichen Zeit begonnene Kurse sind schon mit den jungen Säuglingen leicht fortzusetzen – sogenannte Pekip-Gruppen vermitteln vieles, um die so wichtigen Wahrnehmungen des Kindes zu schulen, verbunden mit einer guten Bindung zwischen Eltern und Kind – einer sehr bedeutenden Voraussetzung für gelingende Beziehung und Erziehung. 

Spätestens mit drei Jahren sollte dann jedes Kind einen Kita-Platz haben. Die Anzahl der Plätze hat sich in der letzten Zeit deutlich erhöht. Nun gilt es, die Plätze inhaltlich mit einer strukturierten, zielgerichteten Qualität zu füllen, so dass möglichst 100 Prozent der Kinder auch einschulfähig werden. Ein klares Sprachentwicklungscurriculum, verbunden mit Bewegung, wie z.B. die Marte-Meo-Methode ist denkbar. Hier sollten aus jeder Kita Mitarbeitende geschult werden, die ihr Wissen an ihre Kollegen weitergeben. Regelmäßig sollte geschaut werden, wo die Kinder in ihrer Entwicklung stehen. Wenn dann noch, wie im Kreis Neuss seit vielen Jahren üblich, eine zusätzliche Überprüfung der werdenden Schulfähigkeit bereits mit fünf Jahren stattfinden kann, um noch etwas Zeit für eventuell notwendige Korrekturen zu haben, dann steht dem Ziel, dass bis auf Ausnahmen alle Einzuschulenden wirklich auch lernfähig sind, nichts mehr im Wege. Dann werden die Kinder ab der dritten Klasse sinnverstehend lesen können, Freude am Lernen haben, ihre Kompetenzen in den weiterführenden Schulen aufbauen können, „fit“ sein für weitere Ausbildung und eine Selbstwirksamkeit erlangen, die sie zufrieden machen wird und in der Lage, Geld zu verdienen, Steuern zu zahlen und die Gesellschaftsstruktur in Mönchengladbach zum deutlich Besseren zu wenden. 

 Die Zeit ist mehr als reif, das Thema „ anzupacken“.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort