Duisburger Geschichten und Geschichte Aschenputtels dunkles Geheimnis

Duisburg · Die Ursprungsversionen der Grimmschen Märchen waren oft viel blutrünstiger. In Neudorf erinnern Märchenfiguren an die Brüder.

 Die Schuhprobe Aschenputtels (Holzstich aus dem Jahre 1864)

Die Schuhprobe Aschenputtels (Holzstich aus dem Jahre 1864)

Foto: Billerantik.de

Ein Spaziergang in das Neudorfer Märchenviertel beginnt am Torbogen an der Heinestraße. Die idyllische Siedlung strahlt auf den ersten Blick tatsächlich etwas Märchenhaftes aus. Über dem Hauseingang der Heinestraße 97 befinden sich zwei Frauenskulpturen. Die Prinzessin blickt auf den Frosch herab, der vermutlich einen Erlösungskuss erwartet, aber noch nicht ahnt, dass er von ihr gegen die Wand geschleudert wird. Und hinter dem unschuldig dreinschauenden Aschenputtel rechts über dem Eingang der Kindertagesstätte verbirgt sich ein dunkles Geheimnis.

Von der Ursprungsversion des Märchens „Die Aschenkatze“ des italienischen Autors Giambattista Basile (1575-1632) ließen sich viel später die Gebrüder Grimm inspirieren. Die Geschichte aus dem 17. Jahrhundert, die in gebildeten Kreisen kursierte, beginnt im Grunde so ähnlich wie das beliebte Märchen Aschenputtel. Der verwitwete Vater heiratet die bösartige Stiefmutter. Eine scheinbar hoffnungslose Situation? Tatsächlich wird Aschenputtel durch die Einflüsterung ihrer Gouvernante zur Mörderin. Sie wartet einfach den passenden Moment ab und dann schlägt sie mit aller Kraft den Deckel der Wäschetruhe zu – und bricht der Stiefmutter das Genick. Heimtückischer Mord!

Entlastend könnte man allenfalls zur Verteidigung der Täterin anführen, dass sie von ihrer Gouvernante angestiftet wurde, die bald darauf den Witwer ehelicht. Doch an Stelle von Dank für die Beseitigung der Stiefmutter erfährt das Mädchen die Verbannung in die Küche als Aschenputtel. Sie fühlt sich ungerecht behandelt, aber sie schafft es gegen alle Widerstände auf den Ball des Prinzen.

 An der Heinestraße 97, Eingang Kindertagesstätte, begrüßt Aschenputtel die Fußgänger.

An der Heinestraße 97, Eingang Kindertagesstätte, begrüßt Aschenputtel die Fußgänger.

Foto: Harald Küst

An diesem Punkt setzen die bekannteren Versionen von Aschenputtel ein. Die Brüder Jacob (1785-1863) und Wilhelm (1786-1859) Grimm verstanden es meisterhaft, die Märchen auf ihr Publikum zuzuschneiden. Da wundert es nicht, dass die heimtückische Mörderin zur Märchenikone mutiert. Aschenputtel wird zur Projektionsfläche für den Wunsch nach dem Märchenprinzen. Einige Vertreter der Frauenbewegung sehen dieses Rollenbild eher kritisch, doch andere weisen darauf hin, dass die junge Frau durchaus selbstbewusst ihre Ziele innerhalb der höfischen Gesellschaft verfolgt.

Tatsächlich bekommt das Mädchen trotz gewaltiger Widerstände schließlich ihren größten Wunsch erfüllt. Ausgestattet mit kostbaren Kleidern und Schuhen darf sie den nächsten Ball besuchen, tanzt mit dem Königssohn, entflammt sein Herz und wird zu seiner Favoritin. Mit einer Schuhprobe will er die Prinzessin seines Herzens wiederfinden. Aschenputtel hält trotz aller Widrigkeiten dem Druck der Stiefmutter und der neidischen Stiefschwestern stand, bis endlich bewiesen ist, dass nur ihr der Schuh passt, während sich die garstigen und eifersüchtigen Schwestern bereits Ferse und Zeh abgeschnitten haben, um da doch noch irgendwie in die zu kleinen Schuhe hineinzupassen.

In anderen Erzählvarianten werden Neid und Missgunst grausam bestraft: Bei Aschenputtels Hochzeit picken die Tauben den bösen Schwestern die Augen aus. Derartige unappetitliche und grausame Details wurden im Laufe der Jahre verändert oder gestrichen, der Mord aus der Erzählung unterschlagen. Die Brüder Grimm haben sich dabei nicht nur auf die Erzähltradition der Volksmärchen gestützt. Sie nutzten gerne schriftliche Quellen. Neben den Versionen des Italieners Giambattista Basiles und des Franzosen Charles Perrault (1628-1703) wurden die angeblich dem Volk abgelauschten Märchen von den calvinistischen Brüdern so lange gedeutet, umgearbeitet und geschliffen, bis sie Erwartungen und Geschmack eines bürgerlichen Publikums perfekt trafen.

Jacob und Wilhelm Grimm haben das Volksmärchen unsterblich gemacht. Dadurch treten ihre Leistungen als Pioniere der Germanistik und ihr politisches Wirken ein wenig in den Hintergrund. Die Brüder Grimm waren ein politisches Symbol liberaler Gesinnung und bürgerlicher Emanzipation gegenüber einem reaktionären Monarchismus.

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