"Wir durften noch nicht einmal Opfer sein"

Das sagten die Töchter der Mordopfer Enver Simsek und Mehmet Kubasik:

Semiya Simsek "Hörst du das? Die Glöckchen. Das sind die Schäfchen, die jetzt aus den Bergen ins Tal kommen. Das tun sie immer in der Nacht. Mein Papa erzählte gerne von sich und von seinen Träumen. Ich liebte es, ihm zuzuhören. Er saß in dieser warmen Sommernacht in unserem Garten in der Türkei und aß Kirschen. Ich setzte mich zu ihm und fragte ihn: Kannst Du nicht schlafen? Doch, Semiya, sagte er, ich möchte etwas hören. Und so lauschten wir zusammen dem Klang der Glöckchen der Schafe.

Ich spürte, wie glücklich mein Vater in diesem Moment war. Ein Jahr später war er tot. Am 9. September 2000 wurde auf meinen Vater Enver Simsek geschossen. Er starb zwei Tage später im Krankenhaus. Der erste Mord. Wir sollten keinen weiteren gemeinsamen Sommer mehr haben. Von einem Tag auf den anderen änderte sich für uns alles, für mich alles. Das alte Leben gab es nicht mehr. Mein Vater war tot.

Er wurde nur 38 Jahre alt. Ich finde keine Worte dafür, wie unendlich traurig wir waren. Doch in Ruhe Abschied nehmen und trauern, das konnten wir nicht. Die Familien, für die ich hier heute spreche, wissen, wovon ich rede. Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein. Immer lag da die Last über unserem Leben, dass vielleicht doch irgendwer (...) aus unserer Familie verantwortlich sein könnte für den Tod meines Vaters.

Und auch den anderen Verdacht gab es noch: Mein Vater ein Krimineller, ein Drogenhändler. Können Sie erahnen, wie es sich für meine Mutter angefühlt hat, plötzlich selbst ins Visier der Ermittlungen genommen zu werden? Und können Sie erahnen, wie es sich für mich als Kind angefühlt hat, sowohl meinen toten Vater als auch meine (...) Mutter unter Verdacht zu sehen?

Dass all diese Vorwürfe (...) haltlos waren, das wissen wir heute. Mein Vater wurde von Neonazis ermordet. Soll mich diese Erkenntnis nun beruhigen? Das Gegenteil ist der Fall. In diesem Land geboren, aufgewachsen und fest verwurzelt, habe ich mir über Integration noch nie Gedanken gemacht. Heute stehe ich hier, trauere nicht nur um meinen Vater und quäle mich auch mit der Frage: Bin ich in Deutschland zu Hause? Ja, klar bin ich das. Aber wie soll ich mir dessen noch gewiss sein, wenn es Menschen gibt, die mich hier nicht haben wollen. Und die zu Mördern werden, nur weil meine Eltern aus einem fremden Land stammen? Soll ich gehen? Nein, das kann keine Lösung sein. (...) Meine Damen und Herren, die Politik, die Justiz, jeder Einzelne von uns ist gefordert. Ich habe meinen Vater verloren, wir haben unsere Familienangehörigen verloren. Lasst uns verhindern, dass das auch anderen Familien passiert. Wir alle gemeinsam zusammen, nur das kann die Lösung sein."

Gamze Kubasik "Ja, nur das kann die Lösung sein. Der türkische Dichter Nazim Hikmet hat ein Gedicht geschrieben. Es drückte aus, wie wir alle empfinden und wie wir gemeinsam leben wollen. Nazim Hikmet benutzte das Bild des Waldes und der Bäume. So wollen wir auch leben, auf der Suche nach Einheit in der Vielfalt. (...) Leben wie ein Baum, einzeln und frei und brüderlich wie ein Wald. Das ist unsere Sehnsucht." (dpa)

(RP)
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