Stuttgart 21 Drei Verlierer, zwei Gewinner, eine Frage

Stuttgart · Die Entscheidung ist deutlich: Die Befürworter von Stuttgart 21 haben bei der ersten Volksabstimmung dieser Art eine klare Mehrheit gefunden. Für die Bahn ein immens wichtiger Sieg. Für die Gegner des Projekt und Ministerpräsident Kretschmann eine herbe Schlappe. Und für die Demokratie?

 Neuer Kurs: Ministerpräsident Winfried Kretschmann muss ein Projekt durchsetzen, dass er nie wollte. Aber es hätte schlimmer kommen können.

Neuer Kurs: Ministerpräsident Winfried Kretschmann muss ein Projekt durchsetzen, dass er nie wollte. Aber es hätte schlimmer kommen können.

Foto: dpa, Michele Danze

Ministerpräsident Winfried Kretschmann Kein Zweifel: Für den ersten grünen Ministerpräsidenten Deutschlands ist das klare Votum eine Niederlage. Kretschmanns Grüne hatten sich früh als Oppositionspartei zu Stuttgart 21 positioniert. Das Bauvorhaben und der Atomausstieg waren die beiden Themen, die den Grünen ihren historischen Erfolg beschert hatten. Dass fast 60 Prozent der Teilnehmer einer Volksbefragung für das Projekt stimmten, trifft ihn hart. Dies gab Kretschmann unumwunden zu. Jetzt muss ausgerechnet er ein Projekt unterstützen, gegen das er lange kämpfte. Aber der Landesvater stellt klar: "Wenn das Volk entscheidet, hat es das letzte Wort." Eine Niederlage auf ganzer Linie? Nein, denn letztlich hätte es schlimmer kommen können, wenn das nötige Quorum für den Volksentscheid verfehlt worden wäre. In diesem Fall hätten die Gegner des Projekts mit einiger Legitimation weiter demonstrieren können. Das klare Ergebnis vom Sonntag schafft wenigstens Klarheit.

 Alter Kurs: Suttgart-21-Gegner Walter Sittler will weiter auf die Straße gehen.

Alter Kurs: Suttgart-21-Gegner Walter Sittler will weiter auf die Straße gehen.

Foto: dapd, Michael Latz

Verkehrsminister Winfried Hermann Der grüne Minister machte in den vergangenen Monaten keinen Hehl daraus, das Bauprojekt aktiv verhindern zu wollen. Herrmann inszenierte sich bewusst als Gegner von Deutsche-Bahn-Chef Rüdiger Grube. Darf ein Minister derart offen gegen ein demokratisch beschlossenes Projekt opponieren? Diese Frage beschäftigte immer wieder die öffentliche Diskussion. Es war sogar spekuliert worden, dass Herrmann im Falle einer Niederlage im Volksentscheid zurücktritt. Am Morgen danach will Herrmann davon nichts wissen. Er will im Amt bleiben, sagte Herrmann im "Morgenmagazin". Er wolle die Entwicklung von Stuttgart 21 "konstruktiv und kritisch" begleiten. "Leicht ist das für mich nicht", räumte Hermann aber ein.

Walter Sittler Der beliebte Schauspieler Walter Sittler war in der Anfangsphase das Gesicht des Widerstands gegen den Neubau. Viele Ideen der Demonstranten wie der sogenannte Schwabenstreich waren Sittlers Idee. Der Grimme-Preisträger wurde zum Liebling des Feuilletons, galt als Prototyp eines gebildeten und sachlich argumentierenden Bürgers, der sich einmischt und scheinbar abgehobenen Politikern die Stirn bietet. Die Niederlage erkennt Sittler an, aufgeben will er nicht. "Ein vergoldetes Stück Blech wird nicht Gold, bloß weil eine Mehrheit das sagt", glaubt der 58-Jährige. Er wolle "mit allen legalen Mitteln, die zur Verfügung stehen" weiter protestieren.

Die Deutsche Bahn Die Bahn will bauen, die Bahn darf bauen, die Bahn wird bauen. So knapp lassen sich die Folgen der Entscheidung vom Sonntag auf den Punkt bringen. Zwar machte Grün-Rot schon deutlich, dass es die Kosten für Stuttgart 21 fest im Blick behalten wird und seinen Anteil von 4,5 Milliarden Euro auf keinen Fall aufstocken werde. Dennoch hat das Unternehmen derzeit viele Trümpfe in der Hand. "Alle wollen das Projekt: die Bürger, die Parteien, die Bahn — da wird man eine Lösung finden", jubelte Projektsprecher Wolfgang Dietrich bereits am Abend.

Die CDU im Ländle Nach 58 Jahren an der Macht hatte es für die CDU im Frühjahr eine der empfindlichsten Niederlagen in der Geschichte der Bundespartei gesetzt. Am Sonntagabend triumphierten die Konservativen und genossen den Sieg. Mehr als 58 Prozent in einer Volksabstimmung für eine CDU-Position. Dass auch die SPD lange für das Projekt geworben hatte, ließ man am Sonntagabend gerne unter den Tisch fallen. Späte Genugtuung war das Gefühl der Stunde. Tanja Gönner, die über den Streit um Stuttgart 21 ihren Posten als Verkehrsministerin verloren hatte, sagte zu sueddeutsche.de: "Für die alte Landesregierung ist es erfreulich zu sehen, dass wir nicht falsch lagen. Und das tut uns gut."

Die Demokratie Die Beteiligung war ausreichend, die Entscheidung klar. Befürworter von mehr direkter Demokratie freuen sich über neuen Rückenwind. Auch Heiner Geißler, erster Vermittler in einer öffentlichen Schlichtung, legt bereits nach und fordert eine Offenlegung von Planungen bei Großprojekten vor Baubeginn. "Wir brauchen für solche Großprojekte eine totale Transparenz durch Faktenchecks", sagte Geißler dem Sender Phoenix. Dies müsse stattfinden, bevor irgendeine Genehmigung erteilt würde. "Erst kommt die Information und Diskussion mit der Bevölkerung und dann wird abgestimmt. Erst nach der Abstimmung kann genehmigt und gebaut werden."

Kritiker warnen: Soll künftig auch über jede Umgehungsstraße und Einkaufscenter vor der Planung abgestimmt werden? Oder überlässt man solche Entscheidung auch künftig gewählten Parlamenten und Vertretungen? Der BDI hat diesbezüglich eine klare Auffassung: Die Erfahrung mit Stuttgart 21 zeige, wie wichtig es ist, Bürger frühzeitig einzubinden. Gleichzeitig sei die Demokratie darauf angewiesen, dass die Ergebnisse demokratischer und rechtsstaatlicher Verfahren respektiert werden. In einer Frage sind sich Befürworter und Skeptiker einig. Die Volksabstimmung zu Stuttgart 21 kam viel zu spät.

(csi)
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