Amnesty greift Ägyptens Machthaber an Schlimmer als Mubarak

Düsseldorf/Kairo · Vor neun Monaten verjagten die Ägypter Diktator Husni Mubarak. Jetzt klammert sich das Militär an die Macht. Die Protestierenden sehen in ihm die Fratze des früheren Regimes. Amnesty International wirft dem Obersten Militärrat schwere Menschenrechtsverstöße vor.

"Die Menschenrechtslage ist in einigen Fällen sogar schlechter als früher", erklärte der Ägypten-Experte bei der Organisation, Henning Franzmeier, anlässlich eines Berichts zur Rechtslage in dem Land. Er nahm damit Bezug auf die Zeit vor dem im Februar gestürzten Staatschef Husni Mubarak.

Dem Bericht zufolge wurden in den vergangenen Monaten rund 12.000 Zivilisten wegen Vorwürfen wie "rücksichtsloses Verhalten, Missachtung der Ausgangssperre, Sachbeschädigung oder Beleidigung der Armee" vor Militärgerichte gestellt. 13 Menschen seien zum Tode verurteilt worden.

Gewalt als Mittel der Macht

Auch die Art und Weise wie die Generäle mit Protesten umgehen, stößt bei den Menschenrechtlern auf Kritik. Der Oberste Militärrat löse "friedliche Proteste regelmäßig gewaltsam auf". Die Ereignisse des Wochenendes unterstreichen diese Einschätzung auf grausame Weise. Seit vier Tagen liefern sich Staatsmacht und Protestierende wieder Straßenschlachten.

Die Machthaber zeigten dabei, dass sie auch vor brutaler Gewalt nicht zurückscheuen. Dutzende Tote und über 2000 Verletzte, lautete die blutige Bilanz. Polizisten gehen mit Schrotflinten, Knüppeln und Tränengas vor. Augenzeugen berichteten von Heckenschützen, die in die Menge geschossen hätten. Gerüchteweise haben die Generäle selbst die Esakalation angeordnet, um möglicherweise die Wahlen verschieben zu können.

Weiterhin Folter

"Die neuen Machthaber haben einfach die Tradition der Unterdrückung aus der Mubarak-Ära fortgesetzt", erklärte Franzmeier. Die Notstandsgesetze seien noch immer nicht aufgehoben worden. Dabei hatte das Militär beim Machtwechsel im Frühjahr zugesichert, den Übergang in sechs Monaten organisieren zu wollen.

Unter Berufung auf Betroffene in Polizeigewahrsam berichtete Amnesty weiter, dass auch Folter zu den Methoden des Militärs gehöre. "Das ägyptische Militär darf die Sicherheit nicht als Vorwand nutzen, um altbekannte Praktiken, wie wir sie unter Mubarak erlebt haben, einfach fortzusetzen." Die neuen Machthaber des Landes seien ihren Versprechen, die Menschenrechte zu achten, "in keiner Weise nachgekommen".

Generäle äußern "tiefes Bedauern"

In einer Woche soll in dem Land die Parlamentswahl beginnen - die erste Wahl seit dem Sturz Mubaraks im Februar. Doch die andauernde Gewalt gefährdet den Termin. Das Land steckt abermals in eine tiefe Krise. Am Montagabend bot das Kabinett der Übergangsregierung seinen Rücktritt an. Ob der Oberste Militärrat das Gesuch annimmt, ist noch offen. Erst soll ein Nachfolger für Ministerpräsident Essam Scharaf gefunden werden.

Der Militärrat versucht die Lage zu beruhigen. Am Montagabend mahnte er Besonnenheit an und rief zu Krisengesprächen auf. In einer offiziellen Mitteilung drückte der Rat "tiefes Bedauern" für die Opfer der jüngsten Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten aus.

Sie fordern Tantawis Sturz

Auch gegen Mitternacht Ortszeit protestierten noch rund 20.000 Menschen auf dem Tahrirplatz im Zentrum der ägyptischen Hauptstadt. In Sprechchören forderten sie den Sturz des Feldmarschalls Mohammed Hussein Tantawi. Der Vorsitzende des Militärrats war unter dem gestürzten Präsidenten Husni Mubarak zwei Jahrzehnte Verteidigungsminister gewesen.

Daher sehen viele in ihm nur einen Stellvertreter des alten Regimes. Auch der Wahlmodus hat Zweifel an der demokratischen Überzeugung der Generäle bestärkt. Das Wahlrecht ist kompliziert. Das Parlament soll in drei Phasen bestimmt werden, der Wahlprozess dürfte sich über Wochen ziehen. Vielen Ägyptern ist nicht einmal ganz klar, wer überhaupt kandidiert. Die Muslimbruderschaft dürfte zwar die meisten Stimmen erhalten, aber das hat nichts zu sagen. Egal, wer die Wahl gewinnt, es ist fraglich, ob eine zivile Regierung den Generälen die Stirn bieten kann.

Auch am Dienstag haben sich auf dem Tahrir-Platz den vierten Tag in Folge Demonstranten versammelt. Sie reagierten damit auf einen Aufruf zu einem sogenannten Marsch der Millionen.

Manipulation der Verfassung

Längst hat sich der Eindruck verfestigt: Je länger der von Feldmarschall Hussein Tantawi geleitete Militärrat das Land regiert, desto weniger scheinen die allesamt noch von Mubarak berufenen Generäle geneigt, die Zügel jemals wieder aus der Hand zu geben. Hinzu kommt: Gleichzeitig versucht die Junta, die Verfassung in ihrem Sinne zu manipulieren. Die für kommenden Montag angesetzten ersten freien Wahlen in Ägypten - vor diesem Hintergrund wirken sie wie eine Farce.

Schon jetzt versuchen die Militärs, die wichtigste Aufgabe des neuen Parlaments zu manipulieren, die Bildung eines Gremiums zur Ausarbeitung einer Verfassung. Sie verlangen eine politische Rolle für sich als "Hüter" der Verfassung, ein Vetorecht und pochen auf die Geheimhaltung des Militäretats. Wenn Ende 2012, Anfang 2013 ein neuer Präsident gewählt wird, dürfte der Inhaber des höchsten Staatsamts den Generälen verpflichtet sein – entweder, weil er aus den Reihen des Militärs kommt, oder weil sie bis dahin mehr Macht haben als er.

Kein Unterschied zu früher

"Wenn ich Ägypten am Vorabend der Revolution am 24. Januar verlassen hätte und heute zurückkehrte, würde ich nicht merken, dass eine Revolution stattgefunden hat, abgesehen von dem Mangel an Sicherheit und der schlechteren Wirtschaftslage", empörte sich der ägyptische Friedensnobelpreisträger Mohammed El Baradei vor wenigen Tagen.

Wie wenig sich seit den Zeiten Mubaraks geändert hat, zeigt auch die Hetze der staatlichen Medien gegen die Tahrir-Demonstranten. So schlug die Tageszeitung Al-Ahram unlängst vor, wieder mehr junge Männer in die Armee einzuziehen, um ihnen den "wahren Patriotismus beizubringen" und sie gegen "zweifelhafte politische Gedanken zu wappnen". Der Militärrat versucht systematisch, die Gruppen hinter dem Aufstand als fremdgesteuert zu diskreditieren. Wüste Verschwörungstheorien werden gestreut, ein Klima des Misstrauens erzeugt.

Skrupellos

Die Skrupellosigkeit der Generäle beim Einsatz von Gewalt ist nicht zu übersehen. Bei Ausschreitungen während einer Demonstration koptischer Christen im Oktober walzten Soldaten mit Panzerfahrzeugen Protestierer nieder, es gab 27 Tote. Darüber hinaus drücken sich die Generäle davor, das alte Regime abzuwickeln. So wurde der verhasste Staatssicherheitsdienst formal zwar aufgelöst, die umbenannte Nachfolgebehörde übernahm aber die meisten Mitarbeiter. Auch Mitglieder der früheren Regierungspartei von Mubarak bekleiden weiterhin öffentliche Ämter.

Ein Bruch mit der Vergangenheit sieht anders aus.

(pst)
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