„Jahrgangsfetischismus" 2021 - Gedenktage und Jubiläen en masse

Bonn/Düsseldorf · Manchmal ist zuviel einfach zuviel. Oder? Gedenktage und Jubiläen aller Art werden uns auch 2021 in großer Zahl durchs Jahr begleiten. Ein gutes Geschäft für Medien und Buchmarkt, zudem lehrreich für das Publikum. Allerdings macht sich hier und da Überdruss breit.

 In einem Schaufenster bilden Luftballons die Zahlen 2021 (Symbolbild).

In einem Schaufenster bilden Luftballons die Zahlen 2021 (Symbolbild).

Foto: dpa/Francisco Seco

Na, Ausblick auf 2021 gefällig? Bitteschön, da kommt er auch schon: der französische Kaiser Napoleon - seit 200 Jahren tot; Schriftsteller Friedrich Dürenmatt - vor 100 Jahren geboren; Marco Polos erste große Asienreise - vor 750 Jahren gestartet. Dazu der 100. Geburtstag von Künstler Joseph Beuys, der 200. von Pfarrer und Naturheilkundler Sebastian Kneipp... Stopp! Eigentlich sollte das neue Jahr wie eine offen Straße vor uns liegen. Aber längst schon ist der Weg bis Dezember mit Gedenktagen aller Art zugepflastert.

Die Medien, dankbar für allerlei Themenanregungen, die sich auch während Corona vom Schreibtisch aus umsetzen lassen, hangeln sich gern daran entlang. Der Buchmarkt quillt über vor termingebundenen Neuerscheinungen. Und Experten jedweder Fachrichtung warten darauf, befragt zu werden. Gedenktage haben zudem eine entlastende Funktion. Wahlweise erinnern sie uns daran, dass früher auch nicht alles schön war - Große Pest, vor rund 670 Jahren, von 1347 bis 1353 - oder dass der Mensch hin und wieder doch zu genialen Geistesblitzen wie der "Göttlichen Komödie" fähig ist - 700. Todestag von Autor Dante Aligheri.

Die Flut an Jahrestagen nimmt beständig zu; die Lust daran ist dagegen alt, wie der Düsseldorfer Historiker Achim Landwehr feststellt. Eine Wurzel liege im alttestamentarischen Jubelfest. "Das hebräische Wort 'jobel' bedeutet Widder und verweist auf die Praxis, nach dem Ablauf von sieben mal sieben Jahren, also in jedem 50. Jahr, ein Erlassjahr zu begehen." Sklaven sollten freigelassen, verpfändetes Land zurückgegeben werden. Das Blasen des Widderhorns, des Schofar, kündigte akustisch ein solches Jahr an, "eine 'Stunde Null', um die Zeit von Neuem beginnen zu lassen."

Der Zeitraum von 50 Jahren war gesetzt, das Doppel, die 100 Jahre, kam spätestens mit Papst Bonifatius VIII. dazu, als dieser beschloss, 1300 zu einem Heiligen Jahr zu erklären, bei dem Rompilger auf einen vollständigen Ablass ihrer Sünden bauen durften. Die Heiligen Jahre sollten nach mosaischem Vorbild und streng nach mathematischer Teilbarkeit zunächst alle 100, dann alle 50 Jahre stattfinden, wie Landwehr erläutert. Schon im 15. Jahrhundert sei der Rhythmus auf 25 Jahre verkürzt worden, mit der Möglichkeit, zwischendurch auch mal ein weiteres Heiliges Jahr "außer der Reihe" einzuschieben.

Das für die Kirche finanziell lukrative Ablasswesen rief Kritiker auf den Plan, darunter Martin Luther. Der Augustinermönch soll der Legende nach am 31. Oktober 1517 seine Thesen an die Tür der Wittenberger Schlosskirche geschlagen haben. Seine Kritik an der Ablasspraxis wurde zur Geburtsstunde der Reformation. Die daraus entstandenen Kirchen feierten 1617 das 100-jährige Reformationsjubiläum. Und setzten damit etwas in Gang, was uns bis heute beschäftigt.

Achim Landwehrs Kollege Winfried Müller weiß zu berichten, dass 1640 mit dem Leipziger Buchdruckerjubiläum erstmals eine bürgerliche Berufsgruppe ein historisches Jubiläum veranstaltete - zum Gedenken an die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern rund 200 Jahre zuvor. Von da an brachen die Dämme: 100. Geburtstag Schillers 1859, 100. Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig 1913 - im Vorfeld des Ersten Weltkrieges - oder 300 Jahre Westfälischer Friede 1948 - kurz nach dem Zweiten Weltkrieg.

Inzwischen feiern wir Jubiläen der Jubiläen. Beispiel aus dem Jahr 2015: 30 Jahre Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 40 Jahren. Doch es regt sich Widerstand. "Während sich die Geschichtsvermittlung an den Schulen und Universitäten mühsam vom Erlernen staatspolitischer Daten emanzipiert hat, verfestigt der Jahrgangsfetischismus dies erneut", meint der Potsdamer Historiker Frank Bösch. Wünschenswert sei stattdessen "mehr Spielraum für brisante Themen, die keinen Jahrestag haben, aber eine historische Einordnung benötigen."

Ausgerechnet Google macht auf seiner Startseite vor, wie das gehen könnte. Das Logo verweist immer wieder auf "ungerade" Jahrestage - die, wie Achim Landwehr meint, jenseits der ausgetretenen Jubiläumspfade zu einem kreativen Umgang mit Geschichte anregen.

(felt/kna)
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