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Viersen Weiterleben mit dem Stoma

Viersen · Manche nennen Matthias Pesch einen Lebensretter: Der schwer behinderte Mann trägt ein Stoma und hat vielen anderen Betroffenen Mut gemacht. Pesch engagiert sich in der Stoma-Selbsthilfegruppe des Kreises Viersen.

 Anton und Elisabeth Baikowski, Sprecher der Viersener Stoma-Gruppe. Der Gesprächskreis für Betroffene und Angehörige trifft sich einmal im Monat.

Anton und Elisabeth Baikowski, Sprecher der Viersener Stoma-Gruppe. Der Gesprächskreis für Betroffene und Angehörige trifft sich einmal im Monat.

Foto: Busch

Bei der Tagung, die das Leben des alten Mannes verändern sollte, sprechen mehrere Dutzend Ärzte und Pfleger über Stomata. Die künstlichen Darm- und Harnausgänge sind für einige Menschen der einzige Weg, etwa nach einer Krebserkrankung weiterzuleben. Seit kurzem trägt der alte Mann selbst einen künstlichen Harnausgang und hat Probleme, die Beutel an seiner Bauchdecke zu befestigen, die den Urin auffangen sollen. Mitten im Vortrag eines Arztes löst sich der Beutel, Harn rinnt durch die Kleidung. "Er hat angefangen zu weinen", sagt Matthias Pesch, der an diesem Tag neben dem Mann sitzt. Die Männer gehen vor die Tür. Peschs Begleiter sagt: "Ich kann mir nur noch einen Strick nehmen und mich aufhängen."

Die Verzweiflung seines Bekannten kennt Pesch nur zu gut. Er ist Mitglied der Stoma-Selbsthilfegruppe des Kreises Viersen und trägt seit Jahrzehnten einen künstlichen Darmausgang. Er bekam ihn in Folge einer schweren Erkrankung: Mit 31 Jahren musste er plötzlich ständig auf die Toilette, hatte Blut im Stuhl. Er nahm ab, bis er nur noch 39 Kilogramm wog. Ärzte diagnostizierten Colitis ulcerosa, eine seltene und starke Entzündung des Darms. "Der Arzt sagte mir damals, ohne OP habe ich noch zwei Wochen zu leben", erinnert sich Pesch. Seine Tochter war damals gerade auf die Welt gekommen. Pesch hat Glück. Nur die Hälfte der Patienten überlebt damals die Operation. Aber seitdem trägt er ein Stoma. Mehrmals am Tag wechselt er die Platten, also die Beutel, in die die Flüssigkeit läuft. "Das Stoma war meine Rettung", sagt er – und empfindet es dennoch als schwere Behinderung.

Als er nun mit seinem Bekannten auf dem Flur steht, erfährt er von dessen Schwierigkeiten, die Platten auf der Bauchdecke zu befestigen. Nicht zu jedem Menschen passt jede Platte und jede Befestigungsart. Pesch empfiehlt, OP-Pflaster auszuprobieren – und sie helfen seinem Bekannten tatsächlich. "Seine Frau hat mich später angerufen und mir gesagt, dass ich ihrem Mann das Leben gerettet habe", sagt Pesch. Sein Bekannter traut sich wieder, vor die Tür zu gehen. Er fasst neuen Lebensmut.

Der Fall ist einer von mehreren, in denen Matthias Pesch und andere erfahrene Stoma-Träger neu Betroffenen helfen konnten. Die Stoma-Selbsthilfegruppe besteht seit 2009. Auch Anton Baikowski gehört dazu. Er hat einen künstlichen Darmausgang, seit er mit 64 Jahren an Darmkrebs erkrankt war. Die Diagnose schockierte den lebensfrohen Mann damals. Über Wochen fühlte er sich dumpf, vergaß alles. "Das hat mich so sehr beschäftigt, dass nichts anderes in meinem Kopf Platz hatte", so Baikowski. Sein Arzt braucht Zeit, um ihn von der Notwendigkeit zu überzeugen, sich operieren zu lassen.

Kurz nach der Operation 2003 gehen seine Frau und er zum ersten Mal zu einer Stoma-Gruppe. "Da habe ich total gestaunt. Die haben gelacht! Die haben Kekse gegessen! Mit Stoma!", sagt Elisabeth Baikowski. Die Erfahrungen der anderen helfen ihr, gelassener zu werden.

Inzwischen sind Anton und Elisabeth Baikowski Sprecher der Viersener Stoma-Gruppe. Der Gesprächskreis für Betroffene und ihre Angehörigen trifft sich einmal im Monat. "Wir sind eine tolle Gruppe, eine richtige Familie", sagt Anton Baikowski. Seine Frau, er und Pesch hoffen, dass nun auch neue Mitglieder kommen. "Am besten schon vor einer Operation. Dann sehen sie, dass man auch mit einem Stoma weiterleben kann", sagt Elisabeth Baikowski.

(RP)
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