Neuss Das Happy-End als Illusion

Neuss · Neuss In Vincentios Herzogtum herrschen lockere Sitten. So locker, dass der Herzog, der mit seinem nachsichtigen Verhalten diese selbst befördert hat, davon überzeugt ist, dass dem Treiben vor allem des Adels in den Bordellen und Schankhäusern Einhalt geboten werden muss.

 Maß für Maß beim Neusser Shakespeare-Festival gespielt von der Bremer Shakespeare Company. Regie: Thomas Weber Schallauer v.l.n.r.: Heike Ronninger, Tobias Dürr.

Maß für Maß beim Neusser Shakespeare-Festival gespielt von der Bremer Shakespeare Company. Regie: Thomas Weber Schallauer v.l.n.r.: Heike Ronninger, Tobias Dürr.

Foto: M. Menke

Aber warum das Image des verständnisvollen Landesvaters riskieren? Soll sich doch ein anderer an seiner Stelle die Hände schmutzig machen. Mit etwas fadenscheinigen Argumenten setzt sich Vincentio ab und gibt alle Macht in die Hände des sittenstrengen Angelo.

Shakespeares Komödie "Maß für Maß" wird nicht zu Unrecht zu den "Problem Plays", den Problemstücken des Dichters, gezählt. Denn alles Geschehen deutet eher auf eine Tragödie hin. Nur der Schluss, bei dem sich alles in Wohlgefallen auflöst (zumindest einigermaßen) und der eine und andere der Lächerlichkeit preisgegeben wird, rechtfertigt die Einordnung in die Gattung "Komödie".

Thomas Weber-Schallauer hat für seine Inszenierung des Stücks mit der bremer shakespeare company das Zwiespältige der Vorlage sauber herausgearbeitet und zudem mit einigen Bildern angereichert, die einer anderen Kategorisierung des Werks, "dark comedy" (dunkle Komödie), entsprechen. Allein das Schlussbild spricht Bände: Herzog Vincentio (kühl und durchtrieben: Erik Roßbander) schleppt seine zukünftige Frau, die jungfräuliche Isabella, wie ein erlegtes Wild ab.

Anders kann sich die junge Frau auch gar nicht fühlen, denn des Herzogs Antrag kam wie aus heiterem Himmel, und Schauspielerin Petra-Janina Schultz sagt eindrucksvoll mit einem in Ungläubigkeit völlig erstarrten Körper, dass sie sich etwas kaum weniger wünscht als das. Was war passiert?

Während Angelo (ein bisschen blass: Tobias Dürr) mit dem Todesurteil für Isabellas Bruder Claudio (zurückhaltend: Peter Lüchinger) ein Exempel statuieren will, weil der junge Mann seine Zukünftige geschwängert hat, treibt sich der Herzog als verkleideter Mönch herum, um Angelo zu überprüfen. Als dieser strauchelt, weil er sich in Isabella verliebt, die um das Leben ihres Bruders bittet, und ihr um den Preis einer gemeinsamen Nacht die Begnadigung Claudios in Aussicht stellt, ist Vincentios Stunde gekommen.

Er überzeugt Isabella, zum Schein auf das Angebot einzugehen, schickt stattdessen die frühere Verlobe Angelos (Svea Meike Petersen) zu dem Treffen, was Angelo aber in der Dunkelheit nicht bemerkt. Des Herzogs Plan geht auf, und am Schluss ist Angelo als bigotter Mensch entlarvt, muss seine frühere Verlobte heiraten, ist der vermeintlich schon gehenkte Claudio wieder lebendig. Und es wird der bestraft, der sich die ganze Zeit als Maulheld und Inkarnation des verlotterten Lebemannes geriert hat: Lucio (Gunnar Haberland) stirbt indes vor allem, weil er den Herzog geschmäht hat. Und das ist schließlich schlimmer als alles Herumhuren und Saufen.

Damit und mit Vincentios Inbesitznahme von Isabella konterkariert Weber-Schallauer zwar schlüssig jedes Happy-End-Gefühl und entlarvt es als Illusion, aber so manche Szene und Figur hat er dann doch um der Effekte willen allzu stark aufgepumpt. Henker, Wachtmeister und Gefängniswärter etwa sind zu reinen Witzfiguren degradiert. Und was hätte Lucio für ein Leitmotiv sein können, wenn er statt prolliger Maulheld zu sein mehr von einem listig durchtriebenen, gleichwohl sympathischen Taugenichts gehabt hätte.

(NGZ)
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