Kolumne Heimatreport Gans schön

Düsseldorf · Unser Autor ist in Urdenbach unterwegs gewesen, wo es eine tierische Straße gibt und die Natur noch Natur sein darf.

 An der Gänsestraße in Urdenbach sind an praktisch jedem Haus irgendwo ein oder mehrere Tiere mit dem schön geschwungenen Hals zu entdecken.

An der Gänsestraße in Urdenbach sind an praktisch jedem Haus irgendwo ein oder mehrere Tiere mit dem schön geschwungenen Hals zu entdecken.

Foto: Anne Orthen

In den Ferien war ich unter anderem im Périgord. Die Region liegt in Frankreich und ist für ihre Trüffel berühmt und für ihre Gänsestopfleber. Sie darf dort hergestellt werden, obwohl Tierschützern regelmäßig der Kamm schwillt beim Gedanken, dass Gänse ungestraft Essen in den Rachen gestopft bekommen und solange gemästet werden, bis die Gänseleber ausreichend verfettet ist und als "Foie gras" (fette Leber) auf den Tisch der Gourmets kommen kann. Seit dieser Reise steht für mich fest: Wenn ich als Gans wiedergeboren werden sollte, dann bitte nicht im Périgord. Wo ich stattdessen gerne wiedergeboren werden würde, das ist die Gänsestraße. Die Gänsestraße ist eine schmale Einbahnstraße in Urdenbach, zu beiden Seiten gesäumt von tollen, alten, teils sonnenblumenumstandenen Fachwerkhäuschen, von Backsteinbauten, verwinkelten Hütten und schönen Gärten.

Urdenbach ist ein ländlicher Stadtteil, bekannt für die "Urdenbacher Kämpe", ein weitläufiges Naturschutzgebiet am Rhein. Weil es keine Deiche gibt, ist die Kämpe ein Überschwemmungsgebiet, das heißt: Hier darf die Natur noch Natur sein. Es gibt alte Streuobstwiesen und, wie es auf einem Infoschild heißt, "seltene Feuchtwiesen" sowie "verwunschene Auenwälder". Und es gibt Tiere. Oh, was habe ich Tiere gesehen bei meinem Spaziergang durch Urdenbach. Zunächst einmal in der Gänsestraße. Ungefähr jeder zweite Haushalt ist im Besitz einer Gänsefamilie. Sie steht neben der Eingangstür oder auf dem Balkon oder auf der Fensterbank, wo sie versonnen zur Gänsestraße hinausschaut.

Okay, es handelt sich nur um Dekogänse, dennoch war ich schwer beeindruckt, zu sehen, dass die Bewohner der Gänsestraße eine so sympathische Corporate Identity in einer solchen Vielfalt zur Schau tragen. Sowieso bin ich ja seit langem der Meinung, dass Tiere die besseren Lebewesen sind, viel besser als Menschen. Noch nie zum Beispiel hat man eine Gans eine Atombombe erfinden sehen geschweige denn den Nachmittag vor einer Talkshow im Privatfernsehen verplempern. Auf solche Ideen kommen nur Menschen, die noch dazu das Konzept der Intelligenz entwickelt haben, um sich einreden zu können, klug zu sein - auch auf diese hirnrissige Idee würde eine Gans niemals kommen.

Wie ich durch die Gänsestraße lief, hatte ich mehr und mehr den Eindruck, durch ein dreidimensionales Suchbild zu wandern. Finde die Gans! Es war praktisch egal, vor welches Haus ich mich stellte - irgendwo, ob an der Fassade oder hinter einem Fenster oder im Winkel eines schmalen Austritts entdeckte ich eine Gans oder mehrere Exemplare dieses stolzen Tiers mit dem schön geschwungenen Hals. Nur wirkliche Gänse sah ich nirgends, was schade war, denn einer meiner Lieblingsfilme ist seit jeher die Zeichentrickfilmserie "Nils Holgersson", über den blonden Jungen, der mit den Gänsen davonfliegt. Davon träume ich, seit ich die Serie gesehen habe: einfach mal die Gänse anspannen und davonfliegen.

Ich fragte in der Heißmangel am Ende der Straße, ob es auch echte Gänse in der Gänsestraße gebe. Die Frau hinterm Verkaufstresen sagte: "Ich steh' nicht auf Gänse. Ich steh' auf Buddhas" - und deutete auf ihre Fensterbank voller Buddhafiguren. Ich fragte einen Mitarbeiter in der "Meisterwerkstatt für Holzblasinstrumente", wie die Straße dermaßen auf die Gans kommen konnte. Er vermutete, es habe im Mittelalter einen Gänsehof in der Nähe gegeben; kurzum, der Mann war an dem Thema gänslich uninteressiert.

Dafür klärte er mich auf, dass ein Saxophon, obwohl nicht aus Holz, trotzdem als Holzblasinstrument gilt - weil das Mundstück aus Holz und das Mundstückmaterial für die Klassifizierung entscheidend ist. Um dieses Wissen, von dessen Existenz ich zuvor auch nicht im Entferntesten etwas geahnt hatte, reicher, watschelte ich meiner Wege. Am Ende der Gänsestraße rechts ab und später einen Feldweg entlang durch die Kämpe in Richtung Rhein, wo Hundebesitzer ihre Tiere ausführten, wo eine Kindergruppe auf Shetlandpferden unterwegs war, begleitet von Hund und Ziegenbock, wo ich zahlreiche Reiher am Himmel sah und wo ich dachte, dass man sich in diesen Zeiten des allgegenwärtigen Terrors paradoxerweise in freier, ungeschützter Natur, wo mehr Tiere als Menschen unterwegs sind, am sichersten fühlt. Im Moment, da ich in einem engen Feldweg diesen Gedanken hatte, sah ich mich plötzlich einem monströsen, locker vier Meter hohen Traktor gegenüber, der auf mich zudonnerte.

Ich war aber mit den Gänsen noch nicht fertig. Denn ich habe die Eheleute Becker kennengelernt, Klaus-Willi und Hildegard. Die Beckers wohnen seit 30 Jahren am Anfang der Gänsestraße in einem Fachwerkhaus, ihr kleines buntes Klingelschild ist verziert mit zwei - richtig. Sie gaben mir Auskunft über die flatterhafte Karriere der Straße. Und so erfuhr ich, dass es an der Ecke Gänsestraße/Urdenbacher Dorfstraße vor zehn, fünfzehn Jahren einen Bäcker gab, der noch echte Gänse im Garten hatte. Die letzten Gänse der Gänsestraße. Ich: "Hat der Bäcker sie mit ins Grab genommen?" Klaus-Willi Becker: "Erst hat er sie gegessen." Wir lachten. "Gänse sind die besten Wachhunde, sie schnattern sofort los, wenn was passiert", sagte er und erzählte von der Zeit, als sich in der Straße eine Disko befand. Traten die Diskogänger nachts auf die Straße, ohne jede Scheu, laut zu sein, ging beim Bäcker der Schnatteralarm los. Müssen unruhige Nächte in der Gänsestraße gewesen sein. Heute, da die letzte Gans verstummt und die Disko einer Kita gewichen ist, herrscht dagegen Ruhe.

Wir sprachen auch über Urdenbach. "Viele verwechseln es mit Unterbach", sagte Klaus-Willi Becker. "Wo kommt ihr her? Urdenbach? Alles klar, toller See." Ist aber okay so, kamen wir überein. Die Leute sollen ruhig alle nach Unterbach gehen, dann bleibt Urdenbach schön unangetastet und naturbelassen. Vor allem die Kämpe. Hildegard Becker schwärmte von ihr. "Das ist wie Jurassic Park. Da erwartet man an jeder Ecke einen Dino", sagte sie. Ja, oder einen Monstertrecker mit brüllendem Verbrennungsmotor. Auch eine Art von Dino.

(RP)
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