Urlaub in Deutschland Mit Salomon Herz durch Wittenberge

Wittenberge · Salomon Herz ist ein Gentleman der Biedermeierzeit. Der Unternehmer hat im Nordwesten Brandenburgs Geschichte geschrieben. Bei Stadtführungen durch Wittenberge darf er noch einmal ausführlich erzählen, wie das kam.

Rundgang durch Wittenberge
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Jürgen Schmidt wirkt etwas aus der Zeit gefallen. Er trägt einen hohen grauen Zylinder, runde Brille, rote Weste samt Uhrkette und hohe Stiefel. Schmidt ist Chef der Stadtführergilde von Wittenberge im Nordwesten Brandenburgs und schlüpft regelmäßig in verschiedene Rollen, gerne in die von Salomon Herz.

Der jüdische Unternehmer war es, der aus dem unbedeutenden Wittenberge einen wichtigen Industriestandort gemacht hat und dafür sorgte, dass eine Bahnstrecke bis Berlin gebaut wurde. Davon profitiert die Stadt in der Mitte zwischen Hamburg und der deutschen Hauptstadt noch heute.

Salomon Herz handelte mit Getreide und Rübenöl und gründete 1823 Deutschlands erstes Ölhandelshaus. In seiner Ölmühle in Wittenberge ist heute ein Hotel untergebracht. In einem der alten Tanks gibt es einen Indoorkletterpark, in einem anderen ein Tauchbecken. Der alte Saugturm an der Elbe, der einst genutzt wurde, um Schiffe zu entladen, beherbergt nun die zum Hotel gehörende "Strandbar". Und direkt davor nutzen Jogger, Spaziergänger und Radfahrer die neue Promenade, die am Ufer entlangführt.

Dass einmal Touristen hier entlangschlendern würden, hätte sich Herz sicher nicht vorstellen können. Und Jürgen Schmidt eigentlich auch nicht. Er ist seit mehr als 22 Jahren Stadtführer - der dienstälteste in Wittenberge. "Hätte mir jemand vor 30 Jahren gesagt, ich würde mal Führungen hier machen, ich hätte ihn ausgelacht!", sagt er. Er kann sich noch gut an die Zeit vor der Wende erinnern, als gleich mehrere Großbetriebe in Wittenberge zu Hause waren. Damals hatte die Stadt 32.000 Einwohner - heute sind es noch rund 17.500. Als Salomon Herz nach Wittenberge kam, ging es wirtschaftlich lange Zeit vor allem in eine Richtung: aufwärts. Herz war einer derjenigen, die das Fundament dafür gelegt haben.

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Foto: Shutterstock.com/ Oleg_P

Schmidt zeigt auf seiner Stadtführung nicht nur die Ölmühle, auf deren Hof heute jedes Jahr die Elblandfestspiele eine Bühne bekommen, Wittenberges wichtigste Kulturveranstaltung. Nur ein paar Schritte weiter hält er schon wieder an: "Hier war Wittenberges Manchester-Viertel mit einer Backsteinarchitektur wie damals in England." Von den Wohnquartieren für die Arbeiter ist allerdings nichts mehr zu sehen.

"Vorsicht, aufpassen!", ruft wenige Minuten später plötzlich eine Frauenstimme von oben. Da platscht es auch schon aufs Pflaster. Die Blicke wandern sofort die Fachwerkhauswand hoch. Ein Fenster ist direkt an der Straße geöffnet. Und heraus guckt eine Frau mit weißer Nachthaube: "Herr Salomon! Ich konnte ja nicht wissen, dass Sie mit Ihren Gästen hier entlang kommen würden!"

Die Frau, die von dort oben eben ihren Nachttopf geleert hat, heißt Matilde. "Eine typische Ackerbürgerin aus der Mitte des 19. Jahrhunderts", sagt Schmidt. Und dass Nachttöpfe auf diese Weise geleert wurden, war zu dieser Zeit ganz normal. "Die Stadt hatte noch keine Kanalisation." Noch bis zum Ersten Weltkrieg hatten die meisten Häuser kein Bad und WC. Wer auf Sauberkeit achtete, ging einmal in der Woche ins Badehaus in der Steinstraße. "Das wurde noch bis in die 1970er Jahre genutzt", erzählt Schmidt.

Das Zentrum Wittenberges war bis Mitte des 19. Jahrhunderts der Kirchplatz. In der Mauer vor der Kirche sieht man noch die eisernen Ringe, mit denen Vieh festgebunden werden konnte: Hier wurde mit dem Vieh gehandelt. Und nach dem einen oder anderen erfolgreichen Geschäft wurde ein Schnaps getrunken, so einer wie Hedwig, die Frau des Apothekers, in der Hand hält, die gerade zu Schmidt und seiner Gruppe gestoßen ist: "Fährmann Hildebrands Kräuterbitter", reine Medizin. Und Hedwig schenkt schon ein: "Sie sehen so blass aus.
Kommen Sie, Sie sollten auch einen trinken."

Vor dem Stadtmuseum steht bereits Burkhard Genth in der Rolle des Fabrikbesitzers Karl Singer mit schwarzem Anzug und Melone und bittet die Gäste hinein. Das Museum, untergebracht in einem Fachwerkgebäude aus dem Jahr 1669, beherbergt eine Ausstellung zu Wittenberges Industriegeschichte: Die Nähmaschinenfabrik Singer kam 1902 in die Stadt, die sich verpflichten musste, für das Werk einen Hafen zu bauen - Wittenberge wurde zur "Stadt der Nähmaschinen".

Der fast 50 Meter hohe Uhrenturm auf dem alten Singer-Gelände an der Bad Wilsnacker Straße ist das Wahrzeichen der Stadt. Und wer sich das näher ansehen möchte: Burkhard Genth macht dort eigene Führungen, bei denen er ebenfalls in Karl Singers schwarzen Anzug schlüpft. Das Werk für die Nähmaschinen, erst unter "Singer", in der DDR dann unter dem Label "Veritas" bekannt, war jahrzehntelang ein riesiger Betrieb.

Heute sind hier Nähmaschinen unterschiedlichster Generationen zu sehen. Zu besten Zeiten stellten die Mitarbeiter 300 000 Nähmaschinen pro Jahr her, die in viele Länder exportiert wurden. "In den 80er Jahren war das hier mit 3200 Mitarbeitern der größte Arbeitgeber der Stadt", erzählt Genth. Nach der Wende war bald Schluss mit der Produktion. Das letzte Nähmaschinenmodell wurde 1989 entwickelt. Aber nicht mehr gebaut.

(dpa/ham)
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