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Kritik an neuen Höchst-Arbeitszeiten in EU Warnung vor der 65-Stunden-Woche

Luxemburg/Berlin (RPO). Drei Jahre lang schwelte der Streit, in der Nacht zum Dienstag einigten sich die EU-Staaten schließlich auf eine Höchst-Arbeitszeit. Mehr als 48 Stunden pro Woche sind verboten - Ausnahmen aber erlaubt. Während Bundesarbeitsminister Scholz die Einigung begrüßte, stieß die flexible Handhabung beim Deutschen Gewerkschaftsbund und der Ärztegewerkschaft auf scharfe Kritik. Sie befürchten Arbeitszeiten von bis zu 65 Stunden.

 Will Hartz IV-Empfänger stärker kontrollieren: Arbeitminister Scholz.

Will Hartz IV-Empfänger stärker kontrollieren: Arbeitminister Scholz.

Foto: AP, AP

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), die Ärztegewerkschaft Marburger Bund und deutsche Europaparlamentarier warnten am Dienstag vor einer Schlechterstellung von Arbeitnehmern mit Bereitschaftsdiensten wie Krankenhaus- und Pflegepersonal. Nach einem Dienstagfrüh erzielten Kompromiss der EU-Staaten sind unter bestimmten Umständen Arbeitszeiten von 65 Wochenstunden oder mehr möglich. Die Bundesregierung begrüßte die Einigung, mit der auch Zeitarbeiter mehr Rechte erhalten sollen.

Mit ihrer Einigung legten die Arbeitsminister der 27 EU-Länder am Dienstagmorgen in Luxemburg einen seit mehr als drei Jahren schwelenden Streit über zwei zentrale Arbeitsmarktgesetze bei. Nach dem Kompromiss für eine neue Arbeitszeitrichtlinie soll eine Höchstarbeitszeit von 48 Stunden pro Woche in der EU zwar die Norm bleiben.

Leiharbeiter werden gleichgestellt

Allerdings können Arbeitnehmer individuell höhere Arbeitszeiten von bis zu 60 Wochenstunden vereinbaren. Bestimmte Bereitschaftszeiten eingerechnet, kann die Arbeitszeit sogar bei 65 Stunden pro Woche liegen. Stimmen Gewerkschaften und Arbeitgeber zu, sind aber auch noch längere Arbeitszeiten möglich. Darauf pochte insbesondere Großbritannien, das die flexibelsten Arbeitszeiten in der EU hat.

Die rund acht Millionen Zeitarbeiter in der EU sollen mit einer Leiharbeits-Richtlinie Festangestellten weitgehend gleichgestellt werden. So sollen Leiharbeiter nach der Einigung des Ministerrats künftig in ganz Europa vom ersten Tag an gleich bezahlt werden wie Angestellte sowie von gleichen Regelungen für Urlaub und Erziehungsurlaub profitieren.

Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) begrüßte die Einigung in Berlin. Die deutsche Tarifverträge könnten nach der Neuregelung "unverändert oder nur mit geringen Anpassungen bestehen bleiben". EU-Sozialkommissar Vladimir Spidla sprach von einem "großen Schritt vorwärts für europäische Arbeitnehmer".

Aufweichung des Arbeitnehmerschutzes?

Die Gewerkschaften fürchten eine Aufweichung des deutschen Arbeitnehmerschutzes durch die Hintertür. Sie stoßen sich an einer Klausel, wonach in der EU künftig zwischen "aktiver" und "inaktiver" Bereitschaftszeit etwa bei Ärzten, Feuerwehrleuten oder Sicherheitspersonal unterschieden werden soll.

"Inaktiv" bedeutet einer Kommissionssprecherin zufolge, dass eine Krankenpflegerin während des Einkaufens per Handy jederzeit zur Arbeit gerufen werden kann. Diese Form der Bereitschaftszeit soll nur dann als Arbeitszeit gewertet werden, wenn dies die Sozialpartner beschließen oder es entsprechende nationale Vorschriften gibt.

"Sozialer Rückschritt"

DGB-Sprecherin Claudia Falk sprach von einem "Einfallstor" für eine schlechtere Bezahlung von Arbeitnehmern mit Bereitschaftsdiensten und für deutlich längere Arbeitszeiten. Der Marburger Bund fürchtet "überlange Arbeitszeiten, übermüdete Klinikärzte im OP und am Krankenbett und eine Verschlechterung der Patientenversorgung", wie der erste Vorsitzende Rudolf Henke erklärte.

Die Bundesärztekammer bemängelte den Entwurf ebenfalls in scharfer Form. Er habe "einige gravierende Verschlechterungen des Arbeitsschutzes für Krankenhausmitarbeiter zur Folge", erklärte Ärztekammer-Vizepräsident Frank Ulrich Montgomery. Erstmalig werde der hohe Standard des Schutzes in Europa gesenkt, um den Klinikarbeitgebern wieder längere Dienstzeiten und mehr Bereitschaftsdienste zuzugestehen.

Auch der DGB-Vorsitzende Michael Sommer äußerte sich: "Das ist ein sozialer Rückschritt. Die Nichtanrechnung des inaktiven Teils des Bereitschaftsdienstes auf die Arbeitszeit widerspricht der Rechtsprechung des EuGH", sagte er. "Diese Regelung bedeutet eine Verschlechterung des Schutzniveaus auf europäischer Ebene, die durch nichts gerechtfertigt ist". Europäische Mindeststandards seien dazu da, eine Angleichung der Arbeitsbedingungen auf dem Wege des Fortschritts herbeizuführen, nicht jedoch sozialpolitischen Rückschritt einzuleiten, hob Sommer hervor.

Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) will sich nach eigenen Angaben "dafür einsetzen, dass in Deutschland keine übermüdeten Ärztinnen und Ärzte im Krankenhaus arbeiten dürfen". Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) von 2003 gelten Bereitschaftsdienste auch in Deutschland als Arbeitszeit. Das Urteil hatte die neuen EU-Regeln nötig gemacht.

Widerstand regt sich auch im Europaparlament, das dem Kompromiss noch in zweiter Lesung zustimmen muss. Während Sozialdemokraten und Grüne das Aushebeln von Sozialstandards befürchten, äußerten sich deutsche Parlamentarier aus der größten Fraktion, der konservativen EVP, eher positiv. Spidla hofft auf eine Verabschiedung des Arbeitspakets bis Jahresende.

(afp)
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