Neuss Der schlesische Rheinländer

Neuss · Als seine Familie 1946 aus Schlesien vertrieben wurde, war Friedhelm Krause 15 Jahre alt. Seit der Eiserne Vorhang gefallen ist, fährt der heute 80-Jährige oft in die alte Heimat. In seinem Elternhaus ist er unerwünscht, in der Nachbarschaft hat er aber neue Freunde gewonnen. Eine Reise nach Schlesien ist heute auch immer eine Reise in das schwierige deutsch-polnische Miteinander.

 Als 15-Jähriger wurde Friedhelm Krause im Frühsommer 1946 aus seinem schlesischen Heimatdorf Rohnstock vertrieben. Der Zug, der sie in den Westen brachte, stoppte in Dormagen: Endstation. Rund 350 ehemalige Rohnstocker haben sich im Rhein-Kreis Neuss eine neue Existenz aufgebaut. An die alte Heimat erinnert ein Gedenkstein, der im Schatten von St. Odilia Gohr steht.

Als 15-Jähriger wurde Friedhelm Krause im Frühsommer 1946 aus seinem schlesischen Heimatdorf Rohnstock vertrieben. Der Zug, der sie in den Westen brachte, stoppte in Dormagen: Endstation. Rund 350 ehemalige Rohnstocker haben sich im Rhein-Kreis Neuss eine neue Existenz aufgebaut. An die alte Heimat erinnert ein Gedenkstein, der im Schatten von St. Odilia Gohr steht.

Foto: A. Woitschützke

Neugierig drückt er das alte Tor auf. Vorsichtig tritt er in den Hof. Behauene Basaltquader lassen ihn vermuten, dass er vor der Werkstatt eines Steinmetzes steht. An den Stallungen bröckelt der Putz. Auf den Dächern fehlen Ziegel. Der Wind pfeift durch die Fenster, die keine Scheiben mehr haben. Kein Mensch ist zu sehen, doch Waldemar Willing fühlt sich von unsichtbaren Augen, die sich hinter den verschlissenen Gardinen verbergen, verfolgt. Wie von Geisterhand bewegt, gibt eine Türe den Weg frei für einen Schäferhund. Der fletscht die Zähne, knurrt den ungebeten Gast unfreundlich an.

 Das Elternhaus von Friedhelm Krause im schlesischen Rohnstock: 1842 erbaut, ist es heute zu großen Teilen zerfallen.

Das Elternhaus von Friedhelm Krause im schlesischen Rohnstock: 1842 erbaut, ist es heute zu großen Teilen zerfallen.

Foto: privat

Bevor Willing den ungastlichen Ort wieder verlässt, fotografiert er das Wetterfähnchen, das die beiden Buchstaben "RK" zeigt. Die Initialen stehen für Richard Krause. Das weiß Waldemar Willing, denn nur wenige Schritte entfernt, im Auto am Straßenrand, sitzt dessen Sohn Friedhelm. Der ist nicht ausgestiegen. Er mag nicht mehr sein für den Verfall frei gegebenes Elternhaus betreten. Auch 65 Jahre nach der Vertreibung tut es noch weh. "Es ist Jammerschade", sagt Friedhelm Krause (80), "aber leider habe ich zu den heutigen Eigentümer unseres Hofes keinen Draht gefunden."

Zu gern würde er das Wetterfähnchen besitzen, das ihn an seine Kindheit erinnert undan jenen Ort, an dem die Familie Krause über 200 Jahre ihren Sitz hatte. Sein Ur-Ur-Großvater Ernst Gottfried Wiedemann hat den heutigen Gebäudekomplex 1842 erbaut, sein Vater Richard das Fähnchen auf den First errichtet, als er 1933 den Hof übernahm. Doch die neuen Hausherren wiesen den Wunsch zurück, verweigerten die Herausgabe, auch Geld- und Ersatzangebote lehnten sie kategorisch ab.

Gemeinsam mit seinem Kaarster Freund "Wanna" Willing hat sich der Neusser Karosseriebau-Meister Friedhelm Krause auf den Weg in seine schlesische Heimat gemacht. Sie sind in Rohnstock an der Wütenden Neisse, das heute Roztoka heißt. 15 Jahre war Krause alt, als im Frühsommer 1946 der Ausweisungsbefehl erfolgte. Deutschland hatte den Krieg verloren, Schlesien wurde polnisch und große Teile der deutschen Bevölkerung vertrieben. Darunter die Familie Krause: Vater, Mutter, fünf Kinder, zwei Großmütter, eine Tante mit ihrer Tochter. Für den voll besetzten Zug, der damals aus dem Bahnhof der Kreisstadt Schweidnitz rollte, war erst im rheinischen Dormagen Endstation.

So leben viele ehemalige Rohnstocker und deren Nachfahren bis heute im Rhein-Kreis Neuss. Alljährlich treffen sie sich an Christi Himmelfahrt in Gohr, wo auch ein Gedenkstein an die Ortsgemeinschaft Rohnstock/Hausdorf erinnert. Krause schätzt, dass 350 Menschen aus dem nur 1800 Einwohner zählenden schlesischen Dorf im Rheinland eine neue Heimat gefunden haben. Einer von ihnen ist Siegfried Schönfelder aus Zons. Dessen Familie, die über Generationen hinweg dem Dorfschmied stellte, waren Krauses Nachbarn in Rohnstock. Im Rheinland wurde der 1944 geborene Siegfried Schönfelder erster Lehrling bei Karosseriebau Krause in Neuss — und blieb bis zur Rente. Schlesier halten zusammen.

Seit dem Fall des so genannten Eisernen Vorhangs 1989 und dem anschließenden Zusammenbruch des Warschauer Pakts reist Friedhelm Krause regelmäßig in die alte Heimat. Während des Kalten Krieges war er nur einmal, Anfang der 1970er Jahre, in Schlesien. Gemeinsam mit seinen Eltern sah er zwar den einsetzenden Verfall des Anwesens, doch er traf damals noch die polnischen Nachfolger an, mit denen sie vor der Vertreibung gemeinsam auf dem Hof gewohnt hatten. "Die Begegnung war emotional", sagt Krause, "mit den neuen Eigentümern, die selbst aus Südpolen nach Schlesien umgesiedelt worden waren, haben wir uns gut verstanden." Jene Familie hat inzwischen ein neues Haus gebaut und ist fortgezogen. Neue Bewohner kamen auf den Hof.

Wenn er heute zu diesen neuen Herren auf seinem Elternhaus keinen Kontakt habe, dann sei das "jammerschade, aber nicht typisch". Vielfach schlage ehemaligen Rohnstockern sprichwörtliche polnische Gastfreundschaft entgegen, wenn sie heute Roztoka besuchen. Davon zeugt auch eine Plakette im Ort: "Zum Gelingen an alle Verstorbenen und zur Mahnung zum Frieden. Rohnstock — 2005". Vor sechs Jahren feierten Polen und Deutsche gemeinsam die 700-jährige Bestehen des Dorfes.

Groll über Vertreibung und gegenüber den neuen Herren in Schlesien verspürt Friedhelm Krause nicht. "Ich bin Schlesier", sagt er selbstbewusst, aber er gibt doch zu, dass er — auch bei offener Grenze — nicht in die alte Heimat zurückgekehrt wäre: "So ist aus mir ein Rheinländer schlesischer Abstammung." Geblieben ist die emotionale Bindung an Niederschlesien, die er versucht an die nächsten Generationen weiterzugeben. Mit vier Kindern und sechs Enkelkindern hat er Rohnstock und die Umgebung besucht: "Die Nachkommen müssen doch wissen, wo die Familie herkommt."

Friedhelm Krause selbst fährt mehrmals im Jahr die rund tausend Kilometer lange Strecke nach Breslau — immer ist der Transporter voll beladen. Kinderkleidung, Küchengeräte, Bücher oder Süßigkeiten hat er im Gepäck, um damit die Arbeit von Kindergärten und Waisenheimen zu unterstützen. "Viele Menschen sind arm", weiß Krause, "für unaufgeregte Hilfe wird gern angenommen und dient der Aussöhnung." Er begrüßt ein Polen unterm europäischen Dach: "So kommen wir immer mehr zur Normalität."

Einer, der diese Normalität überzeugend lebt, ist Tomasz Stawiak (33). Der umtriebige Leitende Pfarrer der evangelischen Friedenskirche (Weltkulturerbe) in Jawor, dem früheren Jauer, sagt wie Krause, aber mit leicht polnischem Akzent: "Ich bin Schlesier." In seinen Adern fließt polnisches, böhmisches und deutsches Blut. Die Geschichte seiner Familie, die immer in Breslau gelebt hat, ist 250 Jahre alt.

Gerade einmal 120 Seelen zählt seine evangelische Gemeinde, die von den Glaubensbrüdern aus Deutschland unterstützt wird. Eine evangelische Enklave im katholischen Polen. Die 6000 Gläubige fassende Friedenskirche wurde auch mit Geld aus dem Rhein-Kreis restauriert. Zu den Gönnern zählt auch Friedhelm Krause. "Ich fahre nich mehr gern nach Rohnstock, wo mein Elternhaus steht", sagt Krause, "ich bin aber immer gern in Jauer." Dort stößt er dann Tomasz Stawiak und einem Glas Bier auf die Freundschaft der Schlesier an.

(NGZ)
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