Dinslaken Jazztorte unter Starkstrom

Dinslaken · Die schönsten Geburtstagsgeschenke macht man sich manchmal selbst. Die Jazzinitiative Dinslaken gönnte sich zum zehnjährigen Bestehen ein Konzert mit David Murray. Mit druckvollem Powerplay blies der Saxofonist in der Kathrin-Türks-Halle drei Stunden lang die Kerzen von der Torte.

In der Ruhe liegt die Kraft. David Murray wirkt sehr ruhig. Er schleicht auf die Bühne. In Zeitlupe richtet er das Mikrofon aus, nuschelt ein ultracooles „Good evening, Dinslaken“. Fast scheint es so, als wolle er sich mit beiläufigem Seitenblick versichern, dass die Musiker noch nicht eingeschlafen sind. Dann legt er den Schalter um und gibt Starkstrom. Das Black Saint Quartett ist hellwach. Das Publikum sowieso. Schon nach den ersten Tonfolgen, die Murray mit seinem Tenorsaxofon kunstvoll im Saal verwirbelt, ist jedem klar: Hier geschieht Großes.

Energie, Kraft, Emotionen

Mit durchgedrücktem Pedal hämmert Lafayette Gilchrist wuchtige Akkorde aus dem Flügel. Jaribu Shahid fängt sie souverän mit dem Kontrabass auf und Hamid Drake übersetzt das spannungsgeladene Schnarren sehr dicker Saiten auf Fellen und Becken mit erstaunlicher Leichtigkeit in rhythmische Pulsschläge. Energie, Kraft, Emotionen – alles drin, alles da. Und dabei ist dies erst der Anfang eines der spannendsten Konzerte, die je auf dieser Bühne zu erleben waren.

David Murray ist bekannt für seine robusten, erdigen, manchmal auch rustikalen Pressklänge, die er Saxofon und Bassklarinette entlockt. Ursprünglich klingt das, urgewaltig und sehr dicht. Murray lässt es schnarren und schwirren, schnalzen und schreien – wild, oftmals ekstatisch. Dass der Energiebolzen sein Instrument dabei immer wieder in höchste Höhen schraubt, wird von ihm erwartet. Dass er dort Töne findet, die es im Grunde gar nicht gibt, ruft unter Jazzfreunden auch nach über 200 Plattenveröffentlichungen noch immer ungläubiges Staunen hervor. Ebenso wie die Tatsache, dass überblasenes Powerplay und lyrisch gefärbte Melodien einander nicht ausschließen und neben sehnsuchtsvollen Balladen auch viel Raum für wilde Expressivität sein kann.

Murray ist ein ebenso raffinierter wie wagemutiger Stilmixer. Virtuos verbindet er Bebop-Elemente mit Freejazz, Soul und Rhythm’n’Blues. Hin und wieder lässt er auch gern den swingenden Bigband-Lover aufblitzen. Der Brückenschlag von Kuba auf den schwarzen Kontinent gelingt mühelos. Karibische Gefühle und die Schreie Mama Afrikas ergänzen einander. Das haben sie immer getan. Vor allem dann, wenn man sich seiner Wurzeln bewusst ist, innerhalb der Tradition bewegt, ein Erbe zu verwalten hat und zugleich ein Suchender ist. So wie Murray. Dass er heute zu den herausragenden Musikern des modernen afro-amerikanischen Jazz zählt, hat er auch seinem wachen Blick und feinen Gespür für neue Einflüsse und Spielweisen zu verdanken.

Geboren wurde David Murray 1955 in Oakland (Kalifornien). Seine Wahlheimat ist seit einigen Jahren Paris. Von hier aus trägt er seine Botschaft in die Welt: Lebe deine Gefühle, aber vergiss dabei nicht den Kopf einzuschalten. Der Mann, der den Gospel mit der Muttermilch eingesogen hat, ist ein politischer Mensch. Seine neue CD „Sacred Ground“, eingespielt mit Cassandra Wilson, erinnert an die Vertreibung afroamerikanischer Familien während des Bürgerkriegs zwischen 1890 und 1930. Einige Titel hat David Murray für das Geburtstagskonzert „Zehn Jahre Jazz im Mittelpunkt“ mitgebracht. In einer Sekunde ist es stampfender, nervöser, hoch energetischer Jazz, der dem Publikum heißkalte Schauer über den Rücken treibt. In der anderen schillernde Entspannungsmusik, serviert auf latinoflauschigem Rhythmus-Teppich. Das Black Saint Quartett gibt alles. Mal mit, mal ohne den Meister. Der steht auch gern am Bühnenrand, gräbt die Hände in die Hosentaschen und wippt sich eins. Er weiß: Auf seine Männer ist Verlass. Das Publikum weiß es auch.

Langer, kräftiger Applaus. Zwei Zugaben, viele Autogramme.

(RP)
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