"Grenzfall" in Berlin Hotel integriert Mitarbeiter mit Handicap

Berlin (RPO). Die Dame am Empfang ist blind, und Jessica, die die Frühstückstische deckt, hat einen Sprachfehler. Im Hotel "Grenzfall" in Wedding arbeiten fast ausschließlich behinderte Menschen.

Das Integrationshotel "Grenzfall" in Berlin
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Mit Sandy gab es bei ihrem früheren Arbeitgeber manchmal Ärger. Einmal zum Beispiel, als sie das Zimmer schon geputzt hatte und trotzdem noch ein Fleck auf dem Spiegel war. "Den hatte ich einfach nicht gesehen", sagt Sandy. Das kann Sandy Ludwikowski schon mal passieren - sie ist stark sehbehindert.

Aber bei der Reinigungsfirma mussten alle Zimmermädchen gleich schnell arbeiten, da gab es keine Extrawurst. Wenn Ärger und Zeitdruck zu groß wurden, musste Sandy weinen, und manchmal hörte sie gar nicht mehr auf. Heute arbeitet die 29-Jährige im Hotel "Grenzfall" in Wedding, keine hundert Schritte von der Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße entfernt.

Morgens geht Sandy als erstes in den Garten und füttert die Fische im Teich. Und sie muss sich dabei nicht beeilen. "Wir wissen, dass unsere Mitarbeiter manchmal langsamer sind", sagt Thomas Binroth, Leiter des Hotels "Grenzfall", das Anfang September seine offizielle Eröffnung gefeiert hat. "Da kann es auch mal passieren, dass ein Mitarbeiter am Tisch nochmal nachfragen muss, weil er die Bestellung auf dem Weg in die Küche vergessen hat."

17 von 22 Angestellten mit Handicap

Das "Grenzfall" ist Berlins zweites Integrationshotel, das andere steht in Kreuzberg. Gründer von "Grenzfall" ist der Verein "Schrippenkirche", der als gemeinnützige Einrichtung keine Gewinne erwirtschaftet. 17 von Binroths 22 Mitarbeitern haben ein Handicap; die Dame an der Rezeption ist blind, und Jessica, die die Frühstückstische deckt, hat einen Sprachfehler. In den Gängen liegt Linoleumboden, auf jeder Etage in einer anderen Knallfarbe. Mit ausgesuchter Höflichkeit hält Ayla ihren Gästen die Tür zum Fahrstuhl auf. Sie ist eine der zwei Hausdamen, kontrolliert die Arbeit der Zimmermädchen. Dass sie ein wenig hinkt, merkt nur, wer genau hinsieht.

Eigentlich wollte Ayla etwas im sozialen Bereich machen. "Aber auf der Berufsschule haben sie mir gesagt, ich hätte eh keine Chance." Ayla Holthöfer ist Epileptikerin und hat eine halbseitige Spastik. Als sie sich später in einem Klinikum bewarb, wollten die sie nicht: "Angeblich wegen meines Schwerbehindertenausweises."

Ayla ist nicht der Typ, der sich beschwert. Sie sagt: "Es ist alles genauso gekommen, wie ich es mir gewünscht habe." Ein paar Schuljahre hat sie verloren, als ihre Medikamente noch nicht richtig eingestellt waren. Jetzt ist sie 25, hat eine abgeschlossene Ausbildung als Hotelfachfrau und trägt Verantwortung; in einem Haus, in dem sie sich wohl fühlt. "Ich mag es, dass hier jeder seine Macken haben darf."

Gleicher Service wie in anderen Hotels

Anspruch des Hotelleiters Thomas Binroth ist es, den gleichen Service zu bieten wie jedes andere Hotel. "Dem Gast ist es egal, ob das Personal etwas weniger belastungsfähig ist", sagt Binroth. Weil die meisten Gäste ihre Zimmer im Internet buchten, erwarteten sie ganz normalen Hotelbetrieb. Sobald sie dann merken, dass das Haus etwas anders sei, seien sie aber sehr angetan, erzählt Binroth. "Es ist die Atmosphäre bei uns, die ist freundlicher. Es herrscht mehr Menschlichkeit."

Binroth teilt die Schichten so ein, dass sich niemand überfordert fühlt. Wer Stress hat oder den Überblick verliert, kann sich auch mal ein paar Minuten zurückziehen. Sandy braucht solche Freiräume. "Wenn mir alles zu viel wird, setze ich mich einfach alleine in ein leeres Zimmer, dann lassen mich alle in Ruhe."

Nur wenn sie von ihrer früheren Arbeit bei der Reinigungsfirma erzählt, wird sie wieder traurig. Immer dünner sei sie damals geworden, immer düsterer ihre Gedanken. Sechs Jahre habe sie durchgehalten, ohne Urlaub, bis zum Zusammenbruch. Am Ende hat sich ein Arzt erbarmt und sie krankgeschrieben. "Da gehen sie nicht mehr hin, hat er gesagt." Jetzt ist für Sandy die Stelle im Hotel "Grenzfall" ein großes Glück. Es ist ihre erste Festanstellung, mit Bezahlung nach Tarif. "Die Arbeit macht mir jetzt wieder Spaß", sagt Sandy. Dann sieht sich noch einmal im Zimmer um - ganz in Ruhe.

(ddp/mais)
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